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Digital In Arbeit

Armutszeugnis der Geistreichen

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AuBer mir ist jeder bereit, mit mir zu reden: ich nur dann, wenn auch auBer mir bin. Dann aber heftig, viel, zwar immer mit der Welt, aber nur selten mit mir hadernd, fiihre ich die obliga-ten Selbstgesprache:

□ „Dieser glatzkopfige Halbstarke konnte mir ruhig seinen Sitzplatz Uberlassen. Wahrend ich nicht so sehr im „SchweiBe meines Angesichtes”, sondern im Trockenen meines verlan-gerten Riickens die Dienstzeit absitze und dafiir sorge, daB er sein Arbeitslo-sengeld furs Nichtstun bezieht, kann ich stehend zum Arbeitsplatz und er sitzend zum Arbeitsamt fahren...!” Meine kleinbiirgerliche GroBangst hindert mich daran, diesem Rostok-ker Geistesverwandten meine Mei-nung und das Obige zu sagen. - Ich fiihre lieber ein Selbstgesprach.

□ „Obwohl ich Dir bereits Mittag sagte, daB wir um sechs Uhr wegge-hen miissen, bist Du immer noch nicht fertig. Dafiir muB ich jetzt auf Dich warten...!” Ich stehe ziemlich sinnlos im Vorzimmer herum und rede - statt mit meiner Frau - mit mir. „Heroen”, troste ich mich, „sind keine Eheman-ner und, folgerichtig, Ehemanner sind keine...” Also Helden, meine gelieb-te Helga, sind sie wirklich nicht.

□ „Das dritte Mai bessert die Chefin meine Rede fiir den Minister aus und laBt keine Zeile ohne Rotstift stehen; den nachsten ,Kas' sollte sie selber schreiben...!” Ein kleiner Pressese-kretar sollte der groBen Kabinettche-fin nicht immer die Wahrheit sagen; selbst dann nicht, wenn seine, an Milchprodukte erinnernde Arbeit dem

Landwirtschaftsminister dient.

All diesen und vielen anderen Selbstgesprachen, die nur durch Schlaf und Traume am 24-Stunden-Rhyth-mus gestort werden, ist - genau ge-nommen - meine Feigheit eigen. Die Selbstgesprache, diese verbalisierten Tagtraume, sind aber nicht nur ein Ausdruck der „Feigheit vor dem Freund”, sondern - und damit troste ich mich fallweise - vor allem ein Armutszeugnis geistreicher Menschen. Ich kann es bestatigen: Fast immer „zerkugle” ich mich uber die eigenen Pointen.

Selbstgesprach ist nicht gleich Selbstgesprach, und daB es keinen menschlichen Bezug ohne Steigerung, ohne Hierarchie gibt, ergab meine wissenschaftliche Forschung:

□ Der Anfanger, der sich ohne Aus-nahme immer mit „Du” (selbst-)an-spricht, begniigt sich mit einfachen, klaren, eher nichtssagenden Satzen, wie zum Beispiel: „Das hast du wirklich versaut...!”

□ Der maBig Fortgeschrittene fiihrt bereits echte Dialoge, ohne daB seine „Gesprachspartner” eine Ahnung da von hatten: „Und wenn der Kellner zu mir sagt: ,Wenn Sie nicht warten konnen, dann gehen Sie!' werde ich dem frechen Kerl antworten ...”

□ Der wirkliche Kenner und Konner redet mit sich selbst nicht nur laut-, sondern auch wortlos. Es geniigt eine Hand-, oder Mundbewegung, oder nur ein leichtes Hochziehen der Augen-brauen und der Selbstgesprachler kennt sich schon aus. Manche spre-chen sich auf dieser Stufe ehrfurchts-voll auch mit „Sie” an.

Das ist eben die hohe Schule der Selbstverstandigung und hat ungefahr die gleiche Wirkung wie die eines Seemanns, der mittels Licht oder Fahnensignalen sich selbst die Fahrt-richtung mitteilt.

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