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Begegnung im Schatten

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Mit dem Roman „Türme” (Verlag Styria, Graz) ist die Autorin über Nacht bekannt geworden. Von Frauen in einer Krisensituation handeltauch ihr soeben abgeschlossener Roman, der unter dem Titel „Die vergitterte Zuflucht” in diesem Jahr erscheinen wird.

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Mit dem Roman „Türme” (Verlag Styria, Graz) ist die Autorin über Nacht bekannt geworden. Von Frauen in einer Krisensituation handeltauch ihr soeben abgeschlossener Roman, der unter dem Titel „Die vergitterte Zuflucht” in diesem Jahr erscheinen wird.

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Ines hat sich in der Küche einen starken Mokka gebraut, hat ihn beim Küchenfenster sitzend getrunken, ein Blick auf die Uhr, es ist dreiviertel drei, jetzt suche ich Helga und gehe mit ihr spazieren.

Auf dem Gang bei einem der Fenster steht eine kleine grauhaarige Frau und weint bitterlich, blickt verzweifelt aus dem Fenster.

„Kann ich Ihnen helfen?” fragt Ines.

„Nein”, sagt die Frau schluchzend, „sind Sie eine Ärztin?”

„Eine Patientin.”

„Ach, wissen Sie, ich bin die Mutter von der Helga, kennen Sie sie?”

„Ja.”

„Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.” Sie fährt sich mit der Hand über die Augen, verwischt die Tränen, weint weiter. „Ich hab sie da hergegeben, hergeben müssen, verstehen Sie? Sie hat um hunderttausend Schilling eingekauft, dabei — sie hat ja nur die kleine Pension, und ich hab auch nicht viel — um hunderttausend Schilling, stellen Sie sich das vor, die sind gekommen, haben geliefert, Teppichboden, Vorhänge, einen Farbfernseher — ich bin nicht nachgekommen mit dem Stornieren, ich hab sie halt da hergegeben, verstehen Sie mich? Was soll ich machen! Und jetzt raunzt sie mich an, ich soll sie herausnehmen, und ich trau mich nicht!”

„Ja, das ist schwer. Gehen Sie jetzt hinein zu ihr?”

„Nein, ich war schon drin, ich bin schon im Weggehen. Ach Gott, ist das ein Jammer mit dem Mädel —können Sie ihr nicht helfen? Bitte sagen Sie ihr, daß das nicht geht! Einmal muß sie es doch begreifen!”

, J.ch weiß nicht, ob ich da viel machen kann”, sagt Ines, „aber ich gehe mit ihr spazieren, dann ist ihr nicht so fad.”

Ja* das ist -”. sie bricht ab. blickt auf die Uhr, sagt „Mein Gott, mein Autobus!” und trippelt über die Stiege hinunter.

Ins Zimmer, Helga Liegt auf dem Bett.

„Ich bin soweit, Helga, wir können Spazierengehen!”

„Ach, ich weiß nicht—mir ist alles wur seht. Ich mag nicht. Ich bin sauer.”

„Was ist passiert?”

Meine Mutter war da. Und sagt, sie kann mich nicht herausnehmen, die Arztin ist dagegen. Und die Arztin sagt, es hängt von meiner Mutter ab. Eine lügt. Ich glaub, die Ärztin.”

„Na ja, dann bleib ich halt auch da und leg mich hin”, sagt Ines und legt sich aufs Bett.

Es ist still im Zimmer, Ines denkt nach. Helga ist eine Kranke, die wahrscheinlich der Gesetzesmaschinerie zum Opfer fällt. Vielleicht ist sie entmündigt. Oder sie wird entmündigt. Wenn sie solche Sachen macht — die erlebt die Psychiatrie anders als ich, ist nicht gern hier, wird hineinkatapultiert, ist abhängig von der Mutter, will nichts als hinaus, vielleicht wieder einkaufen um hunderttausend Schilling — fühlt sich hier festgehalten, fadisiert sich, denkt „die Ärztin lügt”. Erfaßt die Krankheit nicht, hat keinen Uberblick, zu wenig Selbstkontrolle.

„Spricht die Ärztin jeden Tag mit dir?” fragt Ines.

..Ja.”

„Und was hältst du von ihr?” i

„Ich sag dir ja, sie lügt. Sie'lügt mich an.”

„Hast du kein Vertrauen zu ihr?”

„Nein.”

Was soll man da machen, denkt Ines, das ist ein großes Problem — Wie geht man große Probleme an?

Mit kleinen Schritten.

Ines setzt sich auf, jetzt brauche ich eine optimistische Stimme —

„Helga, weißt du, was? Wir gehen in den Tagraum und spielen eine Partie Halma.”

Es klappt, Helga steht auf.

Hinaus, im Tagraum gibt's eine Debatte, Radio und Fernseher laufen zugleich — was ist los? Die kleine Dicke steht da, wütend, schon zur Tür gewendet, murmelt etwas über die Schulter zurück in den Tagraum und läuft hinaus. Die Frauen reden durcheinander — aha, im Fernsehen läuft ein Sprechstück, und die kleine Dicke will Musik, hat das Radio aufge? dreht — eine der Frauen dreht es ab, alle beruhigen sich, Ines und Helga setzen sich zu einem Tisch und spielen Halma.

Jetzt werde ich langsam müde, denkt Ines, die vielen Eindrücke, die vielen Gesichter, jetzt kommt noch das Abendessen, dann gibt's Medikamente, dann kommt die Wachablöse der Schwestern, die Nachtschwester kommt, das Bad wird zugesperrt, die Küche wird zugesperrt, das Eßzimmer — jetzt wird es mir schon zuviel, der scharfe Kontrast, das Alleinsein zu Hause und jetzt die vielen Menschen — aber irgendwie ist es erlösend, ich bin nicht allein — nur vor -der kleinen Dicken fürchte ich mich, das Schlafen wird ein Problem sein, mit der im selben Zimmer zu schlafen, das ist ein Problem — da kommt etwas auf mich zu, eine Angst - eine Angst.

Es ist Abend geworden, draußen vor den Fenstern liegt die Dunkelheit. Alle Gänge und Zimmer sind erleuchtet, einige Frauen waschen sich, einige liegen schon, einige sitzen im Tagraum beim Fernsehen. Ines hat sich zu der Kaffeerunde gesetzt, beteiligt sich aber nicht am Gespräch. Ich bin müde. Ich mag nicht mehr. Wenn ich das nur überwinden könnte, ich fürchte mich vor der Dicken, das Licht auf dem Gang ist unheimlich, die ganze Psychiatrie ist unheimlich — nein, das ist die Angst, das kenne ich doch -nicht umfallen jetzt, vernünftig bleiben, ich habe mich darauf eingelassen, herzugehen, jetzt muß ich es auch aushalten, es geht nicht anders.

Was ist das — ein Schatten — die kleine Dicke ist da. Mit einem Plastiksackerl in der Hand, da ist ihr Strickzeug drin, was will sie? Aha, sie geht wieder. Ich mag nicht mehr, ich geh mich waschen und dann ins Bett — nein, es ist noch zu früh, ich kann sicher nicht gleich einschlafen. Sitzenbleiben. Ein

Schatten—die Dicke ist wieder da, geht auf die Gruppe zu, bleibt stehen und geht wieder. Die ist total verrückt, die ist total daneben — und so etwas auf einer offenen Station! Das ist ein Skandal, Gott, war ich blöd, daß ich da hergegangen bin, unter die Irren!

Unter die Irren?

Ines erschrickt.

Was hab ich da? ' Ein Vor-Urteü.

Ein Vorurteil gegen die kleine Dicke mit den X-Beinen.

Ich sehe sie nicht richtig, ich habe sie von Anfang an nicht richtig gesehen. Wo ist sie jetzt? Ah ja, sie kommt schon wieder daher. Was ich jetzt machen muß, ist schwer. Ich muß mich selbst überwinden. Alles vergessen, was ich über sie weiß oder zu wissen glaube, das ganze Bild stimmt nicht. Jetzt muß ich unvoreingenommen sein.

Die Dicke kommt langsam näher — ihr Blick ist gar nicht so wild jetzt, eher—schüchtern—was wül sie —

Die will sich nur zu uns setzen und traut sich nicht!

Sie spürt, daß sie nicht zu uns paßt.

So primitiv, wie ich geglaubt habe, ist sie nicht —

Die Krankheit sieht man auf den ersten Blick. Erst wenn man näher herangeht, sieht man den Menschen.

Jetzt muß ich etwas machen — und jetzt kann ich es auch —

Ines läuft ins nächste Zimmer und holt einen Sessel. Hoffentlich ist sie noch da, hoffentlich hat sie noch nicht aufgegeben —

„Bitte. Setzen Sie sich zu uns.”

Die Dicke hält den Kopf schief und lächelt zaghaft, setzt sich unbeholfen.

Sie fühlt sich geehrt, denkt Ines, weil sie bei uns sitzen darf.

„Was stricken Sie denn?”

„Einen Pullover für mein Kind.” Sie nimmt das Strickzeug heraus, wieder das Lächeln. Ich heiße Margarete.”

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