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Bei Föhn durch die Stadt

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Dieser Wind - der Wetterhahn schwenkt von Süd nach Ost und wieder zurück, bleibt, bleibt auf Süd: Föhn.

Dieser verrückte Wind. Wer da nicht abheht - wie heißt's im Lied, im längst vergessenen, nie verges- senen: „Da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus." Es ist ein Mailied. Und wer hat schon Lust, mit Sorgen zu Haus zu bleiben? Bei diesem verrückten Wind.

Also ab - in die Stadt, ohne Zweck, Richtung, Ziel, einfach so, der Nase nach, den Füßen nach, wohin sie wollen.

Sie wollen an den Fluß, über die Brücken, hin und her, von einer Seite auf die andere, Alt- oder Neustadt, egal.

Seit es meine Stadt geworden ist durch die Jahrzehnte, weiß ich, daß Städte an Flüssen liegen müssen. Wo nähmen sie sonst die Weite her, den Aufbruch, das Leben? Die Flüs- se mögen so dreckig sein wie die Industrie es will. Eines Tages wer- den sie in alter Frische - endlich paßt das Wort einmal und nicht nur für die alten Kameraden - ja, also, sie werden wieder wie neu sein. Die Flüsse. Die Industrien? Wer weiß, ob es dann überhaupt noch welche gibt.

Auf dem Mozartsteg sind die Bohlen glitschig vom Regen der vergangenen Nacht. „Achtung. Rutschgefahr"'. Es schadet gar nichts, zu erfahren, daß es nicht selbstverständlich ist, zu einem anderen Ufer zu kommen.

Von der Staatsbrücke wehen Fahnen, rot-weiß-rot-weiß-rot- weiß. Die Zeiten, in denen mir beim Anblick von Fahnen schlecht wur- de, weil sie in den Schlacht-Fel- dern vorausflatterten und in unse- rem Jahrhundert voran, sind vor- über. Wenn's hochkommt, wird der Brechreiz durch einen Lachreiz ersetzt. Hier nicht. Die Fahnen flat- tern ohne jede Symbolträchtigkeit. Sie flattern aus Festesfreude, Mo- zarts Musik zu Ehren.

Auf dem Makartsteg steht ein Mann mit einer Drehorgel. Der Wind fetzt die Klänge weg. Was spielt er zu Ehren Mozarts? „Voi qui sapete?" Im Näherkommen übertrumpft die Drehorgel den Wind. „Trink, trink, Brüderlein, trink", spielt sie.

Drehorgeln sind Zauberkästen seit eh und je. Die Kinder wissen das. Aber auch die Erwachsenen erwischt's. Alle gehen langsamer, viele bleiben stehen, lächeln, man- che legen ein Geldstück in den klei- nen Blechbehälter, der an der Dreh- orgel befestigt ist. Ich auch.

Der Mann hat das erste halbe Jahrhundert hinter sich. Er trägt eine buntgestrickte Mütze auf dem Kopf und hat ein Gesicht, das Zu- trauen erweckt durch seine natür- liche Freundlichkeit. Endlich mal einer, dem sein Beruf Spaß zu machen scheint.

„Trink, trink, Brüderlein, trink..."

Mozart-, Residenz-, Dom- und Kapitelplatz, die schönsten Plätze der Welt, behaupte ich. Alexander von Humboldt würde mir zustim- men. Schließlich hat er Salzburg, Lissabon und Konstantinopel zu den drei schönsten Städten der Wel t erklärt. Salzburg und Lissabon kenne ich. Und Konstantinopel kann nicht schöner sein als Salz- burg, vorausgesetzt, daß man sich allenthalben auf die noch verblie- bene Schönheit der Stadt besinnt und nicht noch mehr ruiniert als man schon hat.

Auf einen kleinen Braunen in mein Stammcafe in der Getreide- gasse, das so klein ist, daß höch- stens fünfundzwanzig Menschen Platz haben, wo Rauchverbot herrscht und kein Radio heulenden Schwachsinn verbreitet.

Aber heute hört man ein Geschrei. Eine einzelne Stimme. Es klingt, als ginge es dem Mann ans Leben. Die Worte sind nicht zu verstehen. Was ist los? Ich trinke meinen klei- nen Braunen hastig, ungern hastig, aber das Geschrei läßt mir keine Ruhe. Zahlen und dem Geschre' nach, das immer lauter wird, bis ich den Mann inmitten der Passanten sehe.

„Jesus ist die Liebe!" schreit er. Ich zucke zusammen. Wird Liebe nicht leise verkündet? Oder hat der Mann schon zu lange vergeblich leise gesprochen und ist nicht ge- hört worden? Hat er sich in heili- gem Zorn vorgenommen: Jetzt brüll' ich sie an, all die Verstockten, Bes- serwisser, Gleichgültigen. In der gleichen Lautstärke verkündet er, daß alle Menschen errettet werden sollen, droht aber sogleich Gottes furchtbaren Zorn an. Das alles gipfelt in dem Schrei nach Reue, Buße und Umkehr.

Er hält einen Augenblick inne und sieht sich um. Die Passanten stehen um ihn, neugierig, unsicher, überlegen lächelnd. Manche tippen sich an die Stirn, andere lachen laut.

Der Mann verteilt Hel'tchen. Er drückt mir zwei in die Hand und sagt leise und eindringlich: „Wei- tergeben!" Als hätte er nicht eben noch geschrien wie der billige Ja- kob.

Ich stecke die Heftchen ein, laufe in die Brodgasse, um noch ein „Kärntner" zu kaufen. Als ich her- auskomme, fällt mir ein, daß ich keine Ahnung habe, wie der Mann ausgesehen hat. Ich laufe wieder zurück. Er ist verschwunden.

Ich gehe noch einmal in mein Stammcafe auf den zweiten klei- nen Braunen, diesmal in Ruhe und lese die beiden Hefte: „WasSiewis- sen sollten." Da ist die Rede von dem, was wir ohnehin wissen: Aids, Krebs. Umweltverschmutzung, Na- turkatastrophen, Armut, Hunger, Krieg, Seuchen. Gegen alles wird zu Felde gezogen, auch gegen die „entartete Sexualität", gegen die Medien und die Sucht nach Zer- streuung und Vergnügen. Das alles werde bös enden. Darum der Ruf nach Reue, Buße, Umkehr. Die Bi- bel-Zitate sind geschickt gewählt.

Ich blättere. Irgendwo muß doch stehen, wer die Leute sind, eine Adresse, ein Konto für Spenden. Nichts dergleichen. Sie wollen kei- ne Spenden. Ein Stempel ist unle- serlich.

Ich denke nach, was wohl die Leute vor zweitausend Jahren für Gesichter gemacht haben, als mit Johannes sich eine Stimme aus der Wüste erhob, die zu Reue, Buße und Umkehr aufrief.

Zurück zum Bus - ich bin ein Neandertaler, fahre kein Auto - und wieder heim und an die Arbeit.

Für heute ist die Welt in Ord- nung.

Ist sie?

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