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Capistran

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Ein kleiner Friseurladen auf der Ringstraße, in unmittelbarer Nähe der großen Hotels. Der Gehilfe, der mifch bedient, ist heiter, zutunlich, gesprächig. Der Meister dagegen trägt einen gepflegten grauen Professorenbart zur Schau und ebensolche Umgangsformen. Die Tür geht auf, herein tritt ein hochgewachsener schlanker Herr unbestimmbaren Alters. Adrett, gipsern, leicht vorgeneig-

ten Hauptes. Er spricht die sogenannte Armeesprache… jenes noble k. u. k. Salondeutsch, in dem als Spektralfarben sämtliche österreichischen Landessprachen vom Ungarischen bis zum Böhmischen schimmern. Also Ex-Offi- zier?… Der Schwefel hat meinem Haar nichts genützt, sagt er und läßt sich die Serviette um den Hals binden.

Ich blicke mit schrägem Aug’ in den Spiegel, den er vor sich hat. Woher kenn’ ich diesen Mann nur? Wo habe ich diesen etwas steifen und vergreisten Bubenkopf mit den eiskalten, müdboh- renden Grauaugen, der steil aufsteigenden Stirn und dem dünnen Schopf, der sich über sie legt, schon gesehen? Es muß ein Aristokrat sein, nur Aristokraten können wie gealterte Knaben aussehen. Der Meister streicht ihm die Serviette zurecht, sie beginnen ein politisches Gespräch. „Was meinen, Herr Gi’af“, höre ich den Friseur flüstern, da er seiner Kundschaft eben die Schermaschine an den Nacken setzt, „wie stehen wir Österreicher? Was für Hoffnungen haben wir?“ „Gar keine“, sagte der Graf. „Mit uns schaut es seit 15 Jahren immer trauriger aus. Wir können nichts mehr machen.“ „Und die Deutschen?“ „Die stehen trotz allem turmhoch über uns. Gar kein Vergleich. Sie haben uns ganz überflügelt.“

Sehr interessant. Wer ist der Mann, der diese politischen Ansichten ausspricht, wem gehört der oft geschaute Kopf? Ich frage leise meinen Gehilfen: „Kennen Sie ihn nicht?…“ „Das ist der Berchtold.“

Leopold Berchtold - natürlich - jetzt entsinne ich mich — der Kriegs-Berchtold. Ein prickelnder Augenblick; die Geschichte selber sitzt neben mir unter dem Schermesser - der Mann, der mit einem Federzug über das Leben von einigen hundert Millionen Menschen entschied, ohne sich was Arges dabei zu denken — der Vielgescholtene, dem man nachsagte, Krieg oder Frieden sei für ihn nicht viel mehr als eine Sport- Event gewesen. Und jetzt so sorgenbekümmert und hochpolitisch! Ich spitze meine Ohren schärfer: Berchtold über die Ge genwart, das muß ein Fund sein…

„Ja, die Österreicher haben keine Aussicht mehr. Die Situation ist zu schwierig.“ „Und Ungarn?“ fragt unnachgiebig der Meister. „Die Ungarn - nach meinem Dafürhalten ist’s mit ihnen auch nicht besser. Sie können heut’ nichts mehr machen.“

Pause. Die Schere klappert. Dann kommt aus der geschniegelten Kehle mit einem kleinen Seufzer der Satz: „Nur Capistran kann uns retten!…“

Capistran? - holla, was ist das?… Der heilige Capistran, der das Christentum predigte, bevor es ein Haus Habsburg gab, ist ein paar Jahrhunderte tot. Und wenn er noch lebte - oder ein Nachfahre von seiner Art - kann neuchristlicher Geist retten, was die Wirtschaft verlor?…

Mein Gehilfe entwirrt den Knäuel: Morgen ist der Austria- Preis: Capistran (oder Capitan?) heißt der österreichische Vorausfavorit.

Der Graf hatte sich über die Freudenauer Rennen unterhalten: über Pferde, nicht über Völker. (Er hat diesmal übrigens richtig getippt.)

Aus: HANS NEBBICH IM GLUCK. Von Anton Kuh. Diogenes Verlag. Zürich 1987. 287 Seiten, öS 154,40.

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