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Das Reservat W

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Nur noch ein kleiner Teil des Reservats ist bewohnt, der Rest zieht sich als Ruinenfeld hin, wo verfallene Mauerblöoke abwechseln mit desolaten Verkehrstrakten, verrotteten Metallstrukturen, Drahtwerk und Überresten von Fahrzeugen. Man sieht, daß die Häuser teilweise aus kleinen gegossenen Steinquadern, teilweise aus größeren Gußstücken erbaut waren, durchsetzt mit Metallrippen, die uns manchmal an die Skelette längst ausgestorbener Tiergattungen erinnerten.

Da und dort erhebt sich noch ein robusterer Gebäudestumpf zu beträchtlicher Höhe und dient den zahlreichen, laut kreischenden Vögeln als Markierungspunkt.

Das wirre Draht- und Kabelwerk, meist aus Kupfer bestehend, soll zweierlei Zwecken gedient haben: der Energie- und der Informationsleitung. Anscheinend überzog dieses Netz die ganze Oberfläche, als ob an einem Körper die Adern und Nerven außen an der Haut verliefen. Überhaupt müssen diese Wohnstätten, auch im erhaltenen Zustand, den Eindruck chaotisch hingestürzter, ausgeweideter Körper gemacht haben.

Vordringende Vegetation hat beträchtliche Aufsprengungen erzeugt. Die Wurzeln winden sich oft auf groteske Art zwischen Kabeln, Röhrtrümmern und Artefakten durch. In diesen Verkrallungen drückt sich die stumme Verbissenheit und die lange Zeitdauer aus, in der die Pflanzen sterbende Städte erobern. Die menschlichen Bewohner merken davon wenig, denn die Kinder betrachten die jeweils neu bewachsenen Gebiete als längst aufgelassene Bezirke, und für die Liebespaare sind sie willkommene Einöden und Verstecke mit überraschenden Resten früheren Daseins, die man beim Umherschweifen lachend entdeckt. t. ,Jm übrigen ist die, labyrinthisch durchbohrte, von Höhlungen, Kavernen und Tümpeln durchsetzte Erdkruste hauptsächlich von Insekten bevölkert, insbesondere von Ameisen, die ausgedehnte Staaten errichtet haben. Wie unser Entomologe behauptete, hätten manche Arten gelernt, sich abgelagerte menschliche Substanzen zunutze zu machen, gewisse Chemikalien und Drogen etwa, die an bestimmten Orten angereichert sind. Spezialisten unter den Ameisen bildeten ihre Hinterleiber zu lebenden Flaschen aus, wo diese Stoffe gespeichert werden. Es ist ja bekannt, daß Insekten sich am besten an derartig verbrauchte und durchwühlte Böden anpassen. Jedenfalls ist es sehenswert, wie sioh diese lebenden Insektenstraßen aus feuchten Höhlungen über verrostetes Röhrenwerk schlingen, metallisch schillernd, in neuartigen Farben, die das Chitin sich assimiliert hat: ein knisterndes Leben von fremdartiger Konsequenz, das die menschliche Aktivität ignoriert und sich unbeirrbar eine rätselhafte Zukunft bereitet.

Dazwischen gibt es auch schwärzliche Schimmelbezirke, wo selbst die Ameisen nichts ausrichten, toxische Zonen, die nur von Bakterienkulturen und Mauersalpeter besiedelt sind.

Im alten Zentrum der Stadt steht ein bewachsener Ruinenberg: der Überrest einer Kathedrale. Die umliegenden Häuser sind noch teilweise bewohnt, aber nur von zerlumpten Gestalten. Angeblich nehmen sie hier ein berauschendes Getränk zu sich, das einst auch in der Kathedrale auf rituelle Art ausgeschenkt wurde: Symbol eines archaischen Blutopfers.

Je näher man an das Zentrum herankommt, an das große Rad-Monument, das schon von ferne über den Häusern wahrnehmbar ist, desto bevölkerter ist das Reservat. Die Unheilbaren sind in ständiger krankhafter Bewegung. Ihre immer noch erstaunlichen Kräfte scheinen sich aneinander aufzureiben und dabei jenes Dröhnen zu erzeugen, gegen das man durch Wattebausche geschützt sein muß. In Wirklichkeit sind es aber ihre Wagen, die dieses Geräusch hervorbringen. Wir sahen zum ersten Male Fahrzeuge der Räderzeit in natürlicher Größe. Es erscheint absurd, daß sie Explosionen als Antriebsmittel verwenden. Dazu benutzen sie einen Extrakt aus Erdöl, einer schmierigen Flüssigkeit, zu deren Gewinnung sie sich eigens Löcher in die Erde bohren. Mit paranoischem Ernst sitzen sie in diesen völlig starren Mobilen, direkt neben den Explosionen, und rollen unermüdlich auf glatten Fahrwegen umher, als müßten sie nach einem verworrenen Plan ständig ihre Wohnsitze wechseln.

Im Zentrum angekommen, besichtigten wir den bekannten, riesenhaften, sich drehenden Radgötzen, aus dessen Kabinen die Unheilbaren feierlich auf uns herabblickten. Die Zeremonie des fortwährenden in sich selbst zurücklaufenden Rad-Umtriebs ist Ausdruck ihrer Religion oder vielmehr ihres religiösen Wahns, aus dem sie nicht mehr herausfinden.

Später konnten wir die Unheilbaren beim Fressen von Tieren und Vögeln beobachten. Die Kadaver pflegt man vorher ziu erhitzen. Meist werden sie nur mit Metallgabeln berührt und aufgespießt, doch haben wir auch gesehen, wie ganze Gliedmaßen mit Fingern zum Mund geführt und mit den Zähnen benagt wurden.

Wir sahen auch den berüchtigten Geld-Handel, doch dieses Schauspiel ist wegen semer Beiläufigkeit bei weitem nicht so interessant, wie wir dachten. Die Profitgier, von der unser Geschichtsunterricht spricht, drückt sich beim Handel nicht genügend aus. Es fehlt an Drastik. Früher war es den Besuchern erlaubt oder zumindest nicht ausdrücklich verboten, den Unheilbaren Papiergeld über den Weg zu streuen und sie beim Herbeistürzen und bei der Balgerei um Papierblätter zu beobachten. Seit aber die rigorosen Schutzbestimmungen erlassen sind, hat man derartige Experimente streng untersagt. So muß man sich, wie einst die Astronomen, mit der Beobachtung aus der Ferne begnügen.

Der Besuch endete mit einem Scherz: Wir bestiegen die berühmte Eisenbahn, für deren zahlreiche Räder eigens lange Metallbänder quer durch die Landschaft verlegt sind. Als sie sich mit einem Ruck in Bewegung setzte und aus dem Reservat hinauszurollen begann, erhob sich bei den Besuchern allgemeines Staunen und Gelächter.

(Aus: „Ärgernisse eines Zauberers“, Satiren und Marginalien, Residenz-Verlag, Salzburg.)

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