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Der Kaufmann an der nächsten Ecke

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Mit der Zeit, ja mit der Zeit, und wenn man dann nicht mehr gar so jung ist, macht man sich Gedanken über den Kaufmann an der nächsten Ecke, der im grauen Kittel frühmorgens das Gemüse ordnet und die Milch und den Käse; grau ist auch die schlappe Schildkappe über dem

grauen Gesicht, das aussieht wie abgestandene Ware, halb aufgedunsen und halb eingefallen, von feuchten Flecken überzogen und ausgetrocknet zugleich; der Mund öffnet sich schief beim Reden, beim Lächeln und' beim Husten, die Hände greifen manches Mal in die Leere, und Sekunden der Ratlosigkeit unterbrechen das gemurmelte Addieren; nur aus der Brust steigt ein leiser Pfeifton in die Gurgel empor.

Jetzt weiß man bereits: Das sind die verbrauchten Gesichter! Trotzig dem Tageslicht ausgesetzt, zeigen sie scham-

los die Spuren der im Kleinhandel lange gebückt verbrachten Jahre und Tage, die Kerben der Sorgen und der üblen Grübeleien, die Falten der Lust spießbürgerlicher Freuden am Sonntag, ja, die Spuren eines versonnenen Lächelns über die Möglichkeit, für ein paar Minuten das Götterdämmerungs-

spiel der Weltgeschichte zu verlassen. Gesichter sind das, die an Masken erinnern, denn geschäftstüchtige Höflichkeit sollen die Züge zum Ausdruck bringen, während der mit Wurst, Marmelade, Zucker, Mehl und Suppenwürfeln Befaßte nach innen horcht: auf das Knarren der Knie und des Rückgrats, auf den leichten Schmerz in den Händen, auf die rhythmische Arbeit der Herzmuskulatur. Und, freilich, auch auf den Gedanken an Profit.

Denn zu Hause, nicht wahr, da leben die Frau und die verwitwete Schwägerin und von den drei Kindern noch ei-

nes; aber die anderen beiden brauchen auch noch Geld, gute Worte, Weihnachtsabende undzuweilensogar auch noch Platz zum Übernachten; und wenn sie das alles nicht brauchen, wenn sie nur den Eltern zuliebe so tun, ja, auch dann brauchen sie das Spiel der Treue und das Behagen des Opfers.

Und wenn nicht? Egal und egal. Zwanzig Jahre hindurch hatten sie das alles wirklich gebraucht, vielleicht länger, und der Mann im grauen Kittel unter der schlappen grauen Schildkappe hatte sich daran gewöhnt, daß man ihn gebraucht hatte: Er hat eingestellt die schmunzelnden Hofierereien und die Besuche bei dem kleinen Maßschneider an der Ecke; er hat verzichtet darauf, in der Industrie einen Posten anzunehmen oder waghalsig zu investieren, gar mit Wertpapieren zu spielen; er hat abbestellt die gehobenen, die pompösen, die teuren Waren, die die Kund-

schaft nicht will und hat sich gekrümmt und gerichtet nach den Bedürfnissen der Umgebung. Er hat, mit einem Wort, alles gegeben. Alles. Viel war es nicht. Mehr hatte er nicht zu geben.

Familienvater, ja, das ist er, bekommt den Ehrenplatz am Tisch und als erster die Suppe, darf sich mit ernsthafter, großtuerischer, besserwisserischer Miene über die Geschicke der Welt und über die Vorfälle des Alltags äußern; darf sich bei Sohn und Tochter über das Weiterkommen erkundigen und über Ort, Zeitpunkt und Dauer der Sommerfrische ein gewichtiges Wort reden, hat auch öfters die Entscheidung über die Frage in der Hand, ob man denn das erste oder das zweite Programm im Fernsehen empfangen möchte. Und im Laden ist er, wie man so zu sagen pflegt, sein eigener Herr -die Steuerämter nicht mitgerechnet.

Fünfzig Jahre die Fliegen zu hüten! Indem man sie nicht dick und fett werden läßt, sondern ihr schönstes Weideland mit Glas, Papier, Metallfolie, Küchentuch, Brett und Blech im letzten

Augenblick noch überdeckt! Indem man aber zuvor den Fliegen das Futter herbeischafft. Beneidenswert, sicher. Beneidenswert? Krampfadern vermehren sich an den von Hose und Kittel zweifach verdeckten Stellen, und über den Augen - den wachen, gierig glänzenden, Pläne spiegelnden Mäuschenaugen - liegt eines Tages so etwas wie Spinngewebe, und während der Mund immer noch, wie mechanisch, die Floskeln flötet, beginnt sich der innere Kreislauf nach und nach abzuschließen. Und die Frau hatte ihren Urlaub, standesgemäß, hatte Konfekt und Garderobe, und die Kinder hatten Schule, Sportverein, Tanzstunde, Partei, Museum und Barrikade, die verwitwete Schwägerin hatte in den Speisesälen mondäner Badeorte (via Reisebüro, alles inbegriffen) tolle Tage erlebt, und der Kaufmann an der nächsten Ecke war: Familienvater.

Datteln vor Weihnachten, Schafkäse zu Ostern, die Kaiserbirnen im Herbst. Schluß, aus, so viel war es, das Leben. Nicht wenig. Nicht viel.

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