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Digital In Arbeit

Die böse Hexe Krise

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Es gab einmal eine Zeit, da hing vor jedem Betrieb eine Tafel mit der Aufschrift:

Wir suchen: Wir bieten:

Unter „wir suchen" stand eine lange Liste von Arbeitskräften, die dringend benötigt wurden, unter „wir bieten" eine Fülle von versprochenen Vorteilen und Sozialleistungen.

Die Zeit ist anders geworden. Die böse Hexe Krise war auf ihrem Besen durch das Land geritten und hatte die Schrift auf den Tafeln gelöscht. Sie wurden immer seltener, und plötzlich waren sie verschwunden. Niemand wurde mehr gesucht — nichts wurde mehr geboten. Viele Firmen wurden der Hexe geopfert—Tausende Arbeitnehmer wurden freigesetzt.

Der blonde Christian war einer von ihnen. Er war Facharbeiter in der Stahlindustrie gewesen, sachkundig, spezialisiert, fleißig, treu, gewissenhaft und strebsam. Nun saß er zu Hause und hielt das Nichtstun nicht aus. Man schimpft ja nur so lange auf die Arbeit, bis man keine \mehr hat. Also packte er eines Tages sein Ranzel, nahm seinen Wanderstab und zog aus, um Arbeit zu suchen.

Christian wanderte sieben Tage und sieben Nächte durch sieben strukturgewandelte Gegenden. Am achten Tag kam er in einen Landstrich, in dem es stark nach Subventionen roch. Da mußte es irgendwo Arbeit geben. Und richtig — als er aus einem Wäldchen trat, sah er in der Ferne auf einem sanften Hügel eine wunderschöne, moderne Fabrik. Sieben Hallendächer glitzerten in der Sonne, sieben schlanke Schlote schössen in den Himmel. Das mußte ein Edelstahlwerk sein.

Er stand noch im Anblick des Hauses versunken, als plötzlich aus der Fabrik ein wundersames Glockenspiel erklang. Das Tor sprang auf, fröhliche Arbeiter strömten heraus und zerstreuten sich in der Gegend. Singend kamen die Leute der neuen Schicht heran. Schichtwechsel am frühen Nachmittag? Das bedeutete sicher Kurzarbeit. Aber besser Kurzarbeit als gar keine. Christian beschleunigte seine Schritte. Aus der einen Halle erklang großartige Orchestermusik, aus einer anderen ein gewaltiger Männerchor.

Um die Musik nicht zu stören, schlich Christian auf Zehenspitzen bis zur Portierloge.

„Ent-entschuldigen Sie", stotterte Christian, „ich suche Arbeit."

„Dann fahren Sie in den siebenten Stock, auf Zimmer Nummer sieben — dort, mit dem siebenten Lift."

„Danke." Der Portier schlummerte wieder weiter. Christian fuhr mit dem siebenten Lift in den siebenten Stock auf Zimmer Nummer sieben. Dort wurde er von einem sehr freundlichen Personalchef empfangen.

„Sie suchen Arbeit?" lächelte er. „Ja."

„Haben Sie Zeugnisse?" „Hier."

Der Personalchef besah sich die Zeugnisse sehr genau. Dann runzelte er die Stirne. „Die sind ja ausgezeichnet", sagte er. „Spielen Sie Fußball?"

„Nein."

„Eishockey?"

.Auch nicht. Ich betreibe überhaupt keinen Sport!"

Der Personalchef warf Christian einen nicht sehr freundlichen Blick zu. „Spielen Sie Violine?"

„Nein."

„Cello?"

„Auch nicht."

Der Personalchef trommelte nervös auf die Tischplatte. „Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß Sie weder Sport betreiben noch ein Instrument spielen?"

„Doch, es ist leider so."

„Können sie malen? Können Sie Ballett tanzen? Lesen Sie Goethe, Schiller, Shakespeare?"

„Nein", sagte Christian schüchtern.

„Was können Sie dann?" schrie ihn der Personalchef an.

Christian nahm seinen ganzen Mut zusammen. „Ich bin ein ausgezeichneter Facharbeiter", sagte er stolz.

„Das ist genau das, was wir nicht brauchen", schrie der Personalchef. „Haben Sie nicht die Orchestermusik gehört und den Chorgesang? Unser Werk ist stillgelegt, wir produzieren nichts. Das ist die billigste Art, mit den Subventionen auszukommen. Würden wir produzieren, würden wir den Steuerzahlern noch teurer kommen. Deshalb beschäftigen wir unsere Arbeiter musisch. Sie sind mir sympathisch — ich möchte mich gerne für Sie verwenden. Schreiben Sie Gedichte?"

„Nein", entgegnete Christian. „Das einzige/ was ich schreiben könnte, wären vielleicht Märchen."

„Dann schreiben Sie Märchen", freute sich der Personalchef. „Ich stelle Sie an. Dort haben Sie einen Schreibtisch mit einer Schreibmaschine — Sie können gleich beginnen."

Und Christian setzte sich hin und schrieb das Märchen vom „Mann, der auszog, um Arbeit zu finden."

Dann schrieb er weiter und weiter, ein Märchen nach dem andern, und wenn er nicht gestorben ist, dann bezieht er heute die Pension.

Aus: KLEINE GESCHENKE ERHALTEN DIE FEINDSCHAFT. Amalthea Verlag, Wien 1984.

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