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Digital In Arbeit

Die Video-Familie

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Unser Papa ist ein sozialer Aufsteiger und besucht daher fleißig Kurse und Seminare über Verhaltens- und Gruppentraining, er lernt die richtige Argumentation und die Beherrschung der Körpersprache und ist überhaupt psychologisch schon ganz up to date, damit er, wenn ihn der Ruf zu hohen Führungsaufgaben ereilt, nicht etwa an Kommunikationsproblemen scheitert.

Das Faszinierendste an dieser raffinierten Fortbildung, so erzählte er uns immer wieder, war der Einsatz des Videorecorders. Es war einfach großartig, wenn man selbst wie der Moderator von Club 2 oder wie der Nachrichtensprecher ins Bild kam. Es war ein Gefühl von großer Welt. Da merkte man erst, was man sich selbst schuldig war und lernte gerne und willig, nicht mit dem Finger in die Kamera zu zeigen, nicht „Aääh" zu sagen und sich nicht hinterm Ohr zu kratzen, sich eben telegen zu verhalten. An dem eigenen TV-Bild kann man sich gar nicht sattsehen, es ist doch etwas anderes als bloß ein Probierspiegel.

Daß die Sendung gar nicht ausgestrahlt wird und daher gar niemand außer dem Zuschauerkreis des Videorecorders den überzeugenden eigenen Auftritt miterlebt und zu würdigen weiß, stört im Grunde nicht. Man hat endlich das eigene Bild im Bild und damit das schönste Fernsehprogramm, das es je gab.

Dies war der Ausgangspunkt, von dem an uns die beiden Fernsehprogramme des ORF, die uns schon die längste Zeit gelangweilt hatten, völlig überflüssig vorkamen. Wir beschlossen die Anschaffung eines Videorecorders mit Kamera und etlichem Zubehör, zugegeben eine nicht geringe Investition. Wir verzichteten da-. für auf eine bivalente Solaranlage und verlegten unseren nächsten Urlaub von Mallorca ins Mühlviertel.

Doch die Anschaffung hat sich gelohnt. Zugegeben, die ersten hauseigenen Videoproduktionen waren Personality-Shows. Der Streifen „90 Minuten Papa" hatte etwas von jenem strengen Avantgardismus, der jede Nebensache verbannt und nur die Landschaft des menschlichen Gesichts für sich sprechen läßt. „90 Minuten Papa" lief wochenlang.

Emanzipatorische Einsprüche Mamas führten dann zu unserem zweiten Erfolgsband „90 Minuten Mama". Das gleiche Gestaltungsprinzip bewährte sich. Nur die Bereitschaft Papas, sich dieses Programm anzusehen, war geringer als bei „90 Minuten Papa".

Wir einigten uns auf eine Mischdramaturgie. Aber „180 Minuten Papa und Mama" war zu lang. Wir kürzten. „90 Minuten Papa und Mama" lehrte uns die Technik des ausgewogenen Schnitts.

Und jetzt geht es Schlag auf Schlag. Videost du mich, so videoe ich dich! Schneidest du mich, so schneide ich dich! So haben wir allmählich die ganze Familie integriert.

Da Papa tagsüber arbeiten muß, haben wir den Abend geteilt. Von 18 bis 20 Uhr wird produziert, von 20 bis 22 Uhr wird konsumiert. Anschließend diskutieren wir wie im Club 2 bis nach Mitternacht über das Programm, nehmen die Diskussion auf und haben damit bereits die Produktionsgrundlage für den nächsten Tag.

Gewisse unvermeidliche häusliche Tätigkeiten lernten wir in den Video-Prozeß miteinzubezie-hen. Abendessen oder Gesehirr-abwaschen lassen sich zu interessanten Familienprogrammen verarbeiten. Auch das häusliche Gespräch eignet sich.

Seit bei uns die Video-Kamera permanent im Einsatz ist, haben sich die Umgangsformen wesentlich gebessert, ja wir haben gewissermaßen ein weitaus höheres Niveau erreicht. Der früher eher unangenehme Streit um interne Finanzierungsprobleme wurde zu einer volkswirtschaftlichen Expertendiskussion, die Krawatte legt Papa gar nicht mehr ab und Mama ist stets vorbildlich frisiert und dezent geschminkt. Man agiert jetzt dauernd vor der Kamera, man kann sich nicht gehen lassen, was würden sich die Zuschauer denken!

Trotzdem fühlen wir uns viel unbelasteter. Der ORF mit seinen Nachrichten und Programmen interessiert uns nicht mehr. Wir sind unabhängig und selbstbestimmt.

Unsere Besucher, die früher bei uns das gleiche Fernsehprogramm wie überall sehen konnten, sind jetzt gerngesehene Video-Gäste. Sie unterhalten sich bei unseren Produktionen prächtig. Unser Band „Hallo Nachbarn" wurde ein Hit im ganzen Viertel.

Wenn wir die letzte Rate unserer Video-Anlage abgezahlt haben, kaufen wir uns einen Lieferwagen. Den brauchen wir unbedingt zum Transport der Geräte, damit wir auch die Ausflüge und Urlaube videoen können. In einer Diskussion, die wir kürzlich für den Videostreifen „Club nebenan" aufnahmen, behauptete ein Sprecher, wir seien videosüchtig — und er warnte vor dem Phänomen, welches sich darin äußert, daß einer ohne Videokamera nicht mehr leben kann.

Das sind plumpe Tricks, mit denen vom Thema abgelenkt werden soll. Der Mann beneidete uns in Wirklichkeit nur, die Gesten seiner Körpersprache verrieten es. Und außerdem, so stellte sich heraus, wollte er sich selbst demnächst eine eigene Video-Anlage anschaffen, weil er bei uns zu wenig lang im Bild war.

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