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Engel und Eistüte

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Die junge Frau ging an einem warmen Frühsommertag durch die Straßen ihrer Stadt. Sie hatte keinen Dienst, es war ihr Hochzeitstag, den sie allein begehen mußte, da sich ihr Mann auf einer Auslandsreise befand. Sie lenkte ihre Schritte kurz entschlossen zu dem Lokal, wo in kleiner Runde vor Jahren das gemeinsame Essen stattgefunden hatte.

Vor ihr ging ein Ehepaar mit einem Buben von vielleicht sechs Jahren. Er heulte zum Erbarmen. Die Mutter schalt — er heulte weiter. Sie schlug ihn — es half nicht. Die drei sprachen in ihrer Mutterspräche, tschechisch, welche jener der Zuhörerin, einer Slowakin, nahe verwandt ist. '

„Es geht nicht”, wiederholte der Vater dem Knaben immer wieder, „wir brauchen das Geld für Benzin und nicht für Cola oder Eis. Es tut mir leid!”

Zwanzig Mark hatte sich die junge Frau, vor vierzehn Jahren selbst aus diesem Land emigriert, für das nostalgische Mittagessen eingesteckt. Zwanzig Mark — sie wußte, daß kein gewöhnlicher Besucher aus Osteuropa jemals soviel für den Luxus eines warmen Essens ausgeben konnte. Was an Devisen mitgenommen werden darf, reicht gerade für Treibstoff, Zeltgebühr und Brot. Alles andere nehmen sie in Konserven von daheim in ihrem Skoda, Lada oder Fiat Polska mit.

Wer nicht mit gastlichen Freunden oder Verwandten bei seiner Reise in den Westen rechnen kann, kehrt körperlich ausgehungert — aber sattgesehen und seelisch aufgefrischt zurück. Daheim sind sie in der Lage, sich Cola und Eis zu kaufen — hier, im Westen, hat ihr Geld keinen Wert.

Das alles ging der jungen Frau durch den Kopf. Sie machte sich auf die Suche und fand ihn rasch: ein uralter Skoda mit dem CS-Zeichen stand nur 50 Meter weiter auf dem Parkplatz, besser gesagt, neben ihm — wohl um die Parkgebühr zu sparen.

Sie nahm den Geldschein, tat ihn in ein Kuvert und schrieb in slowakischer Sprache auf einen Zettel: Für Cola und Eis! Aber wohin damit? Hinter die Windschutzscheibe? Dies schien den Zweck des Unternehmens zu gefährden.

Da entdeckte sie, daß der Wagen nicht versperrt war, legte das Kuvert auf den Fahrersitz und ging eilig davon: Die Tschechen kehrten zurück.

Der Mann entdeckte als erster den Brief.

„Siehst Du, jetzt haben wir doch ein Strafmandat gekriegt.”

„Unsinn—die Polizei öffnet keine Türen.”

Erst nach einer Weile nahmen sie den Bub in die Arme, die Mutter sagte: „Jetzt bekommst Du Dein Cola und Dein Eis, Jan. Gott hat uns einen Engel geschickt, er hat Dir Geld mitgebracht.”

Jan aber schluckte und sagte dann:

„Ich dachte immer die Engel sind nur im Himmel?”

Hier endet meine Geschichte, ich habe sie so aufgeschrieben, wie sie mir erzählt wurde.

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