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Entführungen und Erpressungen als Wirtschaftsfaktor

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Bis zum 12. April 1977 sind seit dem Jahre 1955 in Italien 327 Personen entführt worden. Nach Bezahlung eines mehr oder minder gewichtigen Lösegeldes wurden 296 Entführte wieder befreit. Diese Statistik stammt aus dem Innenministerium, das seit 12 Jahren über Menschenraub Buch führt und dabei gewisse Tendenzen festhält: Zunächst handelte es sich um ein sardisches Phänomen mit fast folk- loristischen Aspekten, die den einen und den anderen Romanschriftsteller und Filmregisseur zur Bearbeitung dieses Sujets animierten.

22 Jahre nach der Verschleppung des Großgrundbesitzers Pierino Cra- sta haben nun alle Italiener in Sachen Menschenentführung das große Fürchten gelernt. Filme, die dieses Thema behandeln, erfreuen sich keiner großen Besucherzahlen mehr. Wohlhabende Staatsbürger können bei Verlassen ihrer Wohnung am Morgen nicht mehr mit Sicherheit wissen, ob sie die Lieben zu Hause je wieder zu Gesicht bekommen werden. Eine allgemeine Angstwelle hat sich Italiens bemächtigt. Die Furcht gilt weniger den Terroristen, die mit ihren Attentaten politische Ziele verfolgen und Vertreter der etablierten Ordnung in exponierten Stellungen - Richter, Staatsanwälte, Geschworene, Politiker und neuerdings auch Journalisten - aufs Korn nehmen, wobei sie zur wirkungsvolleren Einschüchterung den Opfern auf die Beine zielen…

Für die Entführer jedoch sind alle - Industrielle, Baumeister, Ärzte, Professoren, Studierende, aber sogar Kinder, Frauen und Greise - vogelfrei und willkommene Opfer einer lukrativen Verschleppung. Erst nach acht Jahren - am 2. Juli 1963 - hat das „sar- dische Phänomen” mit der Entführung des Großgrundbesitzers Ercole Versace auf das Festland, nach Kalabrien, übergegriffen. Das Lösegeld, 280.000 Lire, war geradezu bescheiden. Der „Tarif* ist heute- für eine Respektsperson der Hochfinanz - auf 5 Müliarden Lire gestiegen. Soviel kostet auch die Befreiung eines Baumeisters. (Baumeister gehören als Nutznießer der Bauspekulation der fünfziger und sechziger Jahre zu den reichsten Männern Italiens.)

Bald begriffen die Entführer, daß nördlich von Bologna die „Beute” bessere Profite abwarf als im armen Mez- zogiomo, und so konzentriert sich die Tätigkeit der Entführer heute fast ausschließlich auf Norditalien und die südlichen Großstädte. Die im Wirtschaftswunderdreieck Mailand-Tu- rin-Genua beschäftigten süditalienischen Arbeiter lassen sich leicht in die Dienste der anonymen Entführungs gesellschaften nehmen oder decken deren kriminelles Verhalten wenigstens mit „omerga” (mit Schweigen gegenüber den Behörden).

Niemand weiß, wieviel Fiat-König Giovanni Agnelli für die Auslösung Carla Ovazzas bezahlt hat. „Nicht besonders viel… Sie ist zwar nicht seine Schwiegermutter, nur seine Schwägerin zweiten Grades, aber längst geschieden vom Schwiegervater seiner Tochter”, witzelten die Kommentatoren. Doch dies geschah in Zeiten, in denen man noch Witze reißen konnte. Wahrscheinlich hatten es die Entführer gar nicht auf Signora Ovazza abgesehen und hatten sie in der Hitze des Gefechts wegen ihres jugendlichen Aussehens mit ihrer Tochter Marghe- rita verwechselt.

Längst haben die Entführer alle Kinderkrankheiten ihres Steinzeitalters überstanden und sich mit perfekt funktionierender Organisationen, einem weitgespannten Netz von Verbindungen und Unterschlüpfen und einem Arsenal modernster Waffen binnen weniger Jahre ins ausgehende zwanzigste Jahrhundert heraufgearbeitet. Die Organisation trägt den gespenstischen Titel „Anonyme Gesellschaft zur Entführung von Menschen”. Wer dahintersteckt und wieweit die Verantwortlichkeiten reichen - bis in die hohe Politik, wie bei der Mafia, oder gar hinauf in die internationale Verbrecherwelt - kann nur vermutet, aber nicht bewiesen werden.

Seriöse Versicherungen haben es längst aufgegeben, gegen hohe Prämienzahlungen für die Deckung der Lösegelder aufzukommen. Wirklich reiche Leute sehen sich anders vor. Giovanni Agnelli ist immer von Leibwächtern beschattet. Nicht wenige Italiener haben schon vor Jahren ihr Hab und Gut liquidiert und sind, wie Carlo Ponti und seine reiche „Sofia Naziona- le” (Sofia Loren) - im weniger turbulenten Ausland heimisch geworden. Wer sich nicht fortstehlen kann, bringt wenigstens seine Kinder in schweizerischen, englischen oder gar amerikanischen Internaten unter.

Neuerdings werden die Verschleppten von ihren Entführern eher gut behandelt, der Grund dafür ist nicht etwa verminderte Unmenschlichkeit, sondern nüchterne Berechnung. Auf die erstaunte Frage eines Opfers wegen des Kaviars zum Frühstück, des Champagners und des Whisky nach Lust und Laune, des Fernsehens zur freien Verfügung, soll ein auf den Kontinent geratener Sarde von der Entführungsgesellschaft geantwortet haben: „A me la selvaggina serve viva, non morta” („Mir nützt das gestohlene Wild lebend, nicht tot”). Vor 20 Jahren hatte er noch im Barbagia-Gebiet Sardiniens Schafe gestohlen und dafür bescheidene Lösegelder erpreßt. Jetzt hat auch dieser Inselbewohner das Festland entdeckt und seine bescheidenen Bedürfnisse den hohen Ansprüchen der modernen Leistungsgesellschaft angepaßt.

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