6861633-1977_39_10.jpg
Digital In Arbeit

George Orwell - nicht erlaubt

Werbung
Werbung
Werbung

Die 1. Internationale Buchmesse in Moskau stand unter dem Motto „Das Buch im Dienst von Frieden und Fortschritt”. Auf der Eröffnungsveranstaltung im Großen Kremlpalast sprach - überraschend - UNO-GeneralSekretär Waldheim, der die Messe mit den Helsinki-Ergebnissen in Zusammenhang brachte. Obwohl sich die Russen optimistisch gaben und Weltoffenheit demonstrierten (keine Gepäckkontrolle), gab es bereits vor der Messe einen ZwischepfaU. Dem italienischen Wissenschaftler Vittorio Strada, KP- Mitglied und Übersetzer aus dem Russischen (auch von Dissidenten), wurde das Einreisevisum verweigert, worauf der Turiner Verlag Einaudi seine Teilnahme absagte. Die italienische Presse bekam Schlagzeilen und unter dem Druck der Öffentlichkeit erhielt Strada das Einreisevisum. Einer dpa-Meldung zufolge wurden Einau- di-Ausgaben der Werke von Solsche- nizyn, Nekrassow und Bulgakow beschlagnahmt Die Einreise untersagt wurde auch drei Redakteuren und Lektoren von Gallimard, die in Paris die französische Version der Zeitschrift „Kontinent” besorgen. Doch Gallimard sah keinen Grund, deswegen seinen Stand zu räumen, man präsentierte vor aüem Lederbände französischer Klassiker.

Neben Einaudi-Produktionen ließ die Messeleitung noch andere Bücher entfernen, die angeblich gegen den Geist der Ausstellung verstoßen hätten. Es handelt sich um George Or- wells „1984” und „Die Farm der Tier re”, um einen Band der Propyläen-Ge- schichte Europas sowie um ein Buch des Moskau-Korrespondenten der „Presse”, Heinz Lathe („Was denkt der Sowjetbürger?”). Die Engländer und sogar die Israelis teilten mit, daß alle ihre Bücher vom Sowjetzoll genehmigt wurden.

Am österreichischen Gemeinschaftsstand gab es - wie auch bei den Schweizern - keine Klagen. Nur ein Titel erweckte das Mißtrauen der Russen: „Was kommt nach dem Kommunismus?” Nach Prüfung wurde das Buch zurückgegeben. Ich beobachtete einen jungen Russen, der das Buch umklammerte und am liebsten nicht mehr hergegeben hätte.

Die Bundesrepublik war die zweitstärkste Ausstellerequipe. Rund 190 Verlage (auch aus West-Berlin) zeigten ihre Produktionen. Brisante Titel konnte ich keine ausfindig machen. Der Börsenverein hatte ja zur „Mäßigung” aufgerufen, zur freiwilligen Selbstkontrolle (was einsichtig ist, aber dem Informationsbedürfnis eines russischen Lesers nicht unbedingt

Rechnung trägt). Auf der anderen Seite scheinen die Russen längst nicht so empfindlich wie die DDR-Deut- schen auf der Leipziger Buchmesse. Grass und Böll: natürlich zahlreich vertreten. Hingegen wurden DDR-Autoren in der BRD bewußt ausgespart. (Warum soü Reiner Kunze in Moskau eigentlich nicht möglich sein?) Größtes Gedränge herrschte bei den Japanern: offenbar haben die einfachen Russen starken Nachholbedarf an buddhistisch-asiatischer Phüosophie.

56 BRD-Verlage unterhalten zu mehr als 70 sowjetischen Verlagen geschäftliche Beziehungen, wie man in Moskau nicht ohne Stolz erklärt. Wobei Wissenschaft und Technik die führende Rolle spielen. Schwedische Verlage woüen 50 sowjetische Autoren herausbringen. Giunti aus Italien verlegt sowjetische Kinderliteratur. Finnische Verlage bringen eine Reihe „Bibliothek der sowjetischen schöngeistigen Literatur” heraus. Mac Millan (USA) übersetzt die Große Sowjetenzyklopädie ins Englische. Klagen der Russen: Die englischsprachigen und japanischen Verlage zögen es vor, nur russische Klassiker herauszubringen, wagten nicht, zeitgenössische Prosa zu verlegen.

Zusätzlich zu den Buchausgaben in der Sowjetunion - durchschnittliche Auflage 65.000 - werden ausländische Autoren in den großen Literaturzeitschriften „Inostrannaja literatūra” („Ausländische Literatur”, Auflage 600.000) und „Wseswit” (Kiew, 300.000) vorgestellt. Obwohl Zahlen gelegentlich auch Mißstände verdrängen helfen, seien wenigstens die Auflagen einiger deutscher Autoren nach 1945 genannt: Lion Feuchtwanger 10 Mülionen, Goethe 5 Mülionen, Heinrich Heine, Thomas Mann und Remarque je 4 Mülionen, Anna Seghers 3,5 Mülionen. Wer weiß eigentlich bei uns, daß Heine in 18 Sprachen der Sowjetunion übersetzt wurde? Sie ist also ein klassisches Buch- und Leseland (man rechnet mit 180 Mülionen potentiellen Lesern), wovon man sich etwa in einer ganz simpel eingerichteten Moskauer Buchhandlung überzeugen kann. Der Wissensdurst der Russen scheint unermeßlich, um neu eingetroffene Titel kämpft man mit den Ellenbogen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung