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Digital In Arbeit

Glücklich ist, wer vergißt. . .

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Ich bin nicht vergeßlich. Also wenn einer nicht vergeßlich ist, dann bin ich es. Mein Gedächtnis funktioniert ausgezeichnet, und wenn es einmal nicht funktioniert, habe ich immer noch einen Terminkalender.

Ich weiß im Augenblick nicht, wo er ist, aber gesehen habe ich ihn irgendwo. Wahrscheinlich liegt er da, wo er immer liegt. Wo liegt er denn immer? Blöde Frage.

Außerdem suche ich im Augenblick meinen Einkaufszettel. Ohne Einkaufszettel bin ich aufgeschmissen. Zwar habe ich im Kopf, was ich brauche, aber ich weiß nicht wozu.

So etwas passieVt mir leider häufig. Das hat mit schlechtem Gedächtnis nichts zu tun, sondern mit der totalen Präsenz, zu der ich fähig bin. Ich lebe eben ganz in der Gegenwart. Was eine Minute vorher passiert ist, ist für mich ausklingendes Mittelalter.

Neulich hatte ich nach zweistündigem Suchen endlich einen Parkplatz gefunden und begann mich konzentriert meinen Einkäufen zu widmen.

Als ich damit fertig war, konnte ich mich an nichts mehr erinnern. Nicht nur, daß ich nicht wußte, wo mein Auto geparkt war, ich wußte auch nicht mehr, welche Marke ich fuhr.

Suchend lief ich durch die Straßen. Mercedes? Nein. Mercedes würde ich nie fahren. Porsche? Bestimmt nicht, viel zu teuer. Vielleicht die Ente da? Ich ging näher und versuchte, unbeobachtet die Tür zu öffnen. Mein Schlüssel paßte nicht.

Glücklicherweise kam in dem Augenblick ein Polizist. Hilfesuchend ging ich auf ihn zu. „Entschuldigen Sie, Herr Wachtmeister, ich habe vergessen, wie mein Auto aussieht. Können Sie mir helfen?“

Er warf mir aus zusammengekniffenen Augen einen prüfenden Blick zu. „Kann ich mal Ihre Papiere sehen?“

„Selbstverständlich!“ Ich gab ihm gleich meine ganze Handtasche.

Mit einem einzigen Griff zog er die Papiere heraus. Nach eingehender Untersuchung gab er sie mir zurück. „Wenn Sie mich auf den Arm nehmen wollen, kommen Sie gleich mit!“

Die Polizei weiß die einfachsten Sachen nicht, und außerdem ist sie auch noch pampig. Da stand es doch schwarz auf weiß, daß ich einen Sattelschlepper fuhr. Hatte ich es nicht gleich gesagt? Außerdem war er joghurtweiß und ganze drei Schritte von mir entfernt. Wütend stieg ich ein und gab Gas.

Ernsthaft Betretene ließ ich allerdings zurück, als ich neulich auf dem Einwohnermeldeamt war. Mein Paß war mir vorübergehend abhanden gekommen, was ja jedem passieren kann, und ich wollte einen neuen beantragen.

Die freundliche Dame am Schalter schob mir ein Formular über die Theke und bat mich, es auszufüllen. Munter vor mich hin pfeifend begann ich: Name und Vorname. Das war leicht, das wußte ich. Geburtsdatum war schon schwieriger. War ich überhaupt geboren? Angestrengt dachte ich nach.

„Ist was?“ fragte die freundliche Dame.

„Ja - das heißt, nein. Ich weiß nicht.“

„Was wissen Sie nicht?“

„Ob beziehungsweise wann ich geboren bin.“

„In Ihrem Alter können Sie das ruhig noch wissen“, meinte sie wohlwollend.

Sie wußte es. Blitzschnell fragte ich: „Wie alt bin ich denn?“

„Na, höchstens 27!“

Eine reizende Person. Ich lachte geschmeichelt und schrieb hinter Geburtsdatum: „Höchstens 27 Jahre.“ Der Rest war einfach und

Die Vergangenheit holt den Menschen immer ein (Karikatur Sattier)

reine Routine. Man hat ja Unmengen Wissen im Kopf.

Draußen sangen die Vögel, und selbst müde Amtsstuben schienen vom Frühling erfüllt zu sein. Ich beschloß, mir das erste Eis des Jahres zu kaufen, und ging vergnügt hinaus.

„Hallo! Ihr Formular!“ Die Dame am Schalter streckte die Hand danach aus.

„Wozu?“ fragte ich.

„Sie wollten doch einen Paß!“

„Bestimmt nicht. Ich habe doch einen.“ Aus meiner Handtasche holte ich meinen Paß und zeigte ihn ihr.

Mit offenem Mund starrte sie mich an. „Waren Sie nicht die, die eben noch einen Paß haben wollte?“ stotterte sie hilflos.

„Das müßte ich doch wissen.“ Wütend ging ich hinaus und knallte die Tür zu. Manche Leute haben ein Gedächtnis wie ein Sieb.

Aus: WAS MACHEN SIE. WENN ES PFEIFT. Satiren von Miriam Frances. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1986.

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