7046595-1990_35_20.jpg
Digital In Arbeit

Gutachten gefäJlig?

Werbung
Werbung
Werbung

Ich habe einen Fehler gemacht! Aber ich werde es nie wieder tun. Ich habe den Jungen des Nach- barn zum Lesen von Tageszeitun- gen verführt. In meinem unermeß- lichen Leichtsinn habe ich mich sogar erbötig gemacht, ihm abends meine ausgelesenen (was immer das ist) Zeitungen zur Lektüre zu über- lassen. Und der gute Junge lekto- rierte zu meiner größten Zufrie- denheit. Bis vor ein paar Tagen. Da kam er zu mir und sagte: „Lieber Onkel Nachbar, Du bist doch auch so etwas wie eine moralische In- stanz!"

Oh Eitelkeit, oh falscher Stolz! Dem Hochmut folgt bekanntlich der Fall, doch mit geschmeichelter Seele und lächelndem Gesicht sagte ich „Wenn Du es sagst, mein kleiner Freund." Und damit hatte ich die Bescherung. Der Herr Lehrer hatte ihm nämlich an diesem Tag Vorhal- tungen in der Hinsicht gemacht, daß es reichlich unmoralisch sei, den Eltern auf dem Sack zu liegen und gleichzeitig in Mathematik und Deutsch nicht ordentlich zu lernen. Und nun brauche er von mir, der einzigen für ihn greifbaren morali- schen Autorität (ach wie gut das meiner geschundenen Seele tat!), ein Gutachten, das diesen Vorwurf der Unmoral ein für alle Mal aus der Welt schaffen sollte.

Ich saß in der Klemme, wie es in schlechtem Deutsch aber dennoch durchaus zutreffend hieß. Wollte ich nicht mein ganzes Ansehen beim Nachbars jungen verlieren, dann mußte ich gutachten. Tat ich es nicht, verlor er auch noch den letz- ten Halt in seiner gefährdeten Ju- gend. Also schritt ich zur verbalen Tat: „Angesichts der geburten- schwachen Jahrgänge ist es gera- dezu eine moralische Pflicht eines jeden Heranwachsenden, zumin- dest eine Schulstufe zweimal zu absolvieren, um eine größere Leh- rerarbeitslosigkeit zu verhindern. Ein arbeitsloser Lehrer stellt schließlich eine schwere sittliche Gefährdung für unsere Jugend dar. Man stelle sich vor, das eigene Kind spaziert über den Karlsplatz und muß erleben, wie der gestern noch gefürchtete Deutschlehrer heute schon zu den Kindern vom Karls- platz gehört. So besehen ist das Durchschreiten der Schulstufen ohne die eine oder andere Prolon- gation eine moralische Nieder- tracht, mein lieber Junge!"

Diese, meine geschliffene Argu- mentation, diese Klarheit des Ge- dankens gepaart mit der Geradli- nigkeit der moralischen Aussage, machte mich mit einem Schlag bekannt. Ich wurde so etwas wie der Hausphilosoph und Moralist von Unter-Erdberg.

Inzwischen verlangt man von mir Gutachten für alle Lebenslagen. Und ich achte gut.

Da war etwa jener Mann, der die Rückzahlung seiner Kredite einge- stellt hatte. Und ich schrieb der Bank einen freundlichen Brief: „Sehr geehrte Damen und Herren! Herr X. hat - wie Ihrer Aufmerk- samkeit leider nicht entgangen ist - die weitere Kreditrückzahlung eingestellt. Sie dürfen jedoch nicht glauben, daß er dies in der Absicht getan hat, Sie zu schädigen. Ganz im Gegenteil. Bedenken Sie: bis jetzt konnten Sie ihm bloß 10,25 Prozent Zinsen verrechnen. Dadurch, daß er ein Fall für die Rechtsabteilung geworden ist, kommt ein Satz von 16 Prozent zur Anwendung. Hätte er dagegen den Kredit ordnungsge- mäß zurückgezahlt, würden Sie eines Tages überhaupt keine Zin- sen mehr an ihn verrechnen kön- nen. Ich möchte daher darauf hin- weisen, daß die Einstellung der Zahlung durch Herrn X. einzig und allein mit der Sorge um Ihr Ge- schäftsergebnis begründet ist. Herr X. nimmt die Last der höheren Zinsen auf sich, damit Sie auch in Hinkunft Ihren Aktionären eine

konflikte. So etwa, als kürzlich ein Sonntags-Zeitungs-Leser, der aber keineswegs ein Sonntags-Zeitungs- Zahler ist, sich mit der Bitte an mich wandte, ich möge doch haar- klein und mit meiner Gutachterau- torität beweisen, daß es gar keine andere Möglichkeit gäbe, als- die sonntägliche Zeitungsentnahme unentgeltlich durchzuführen. Also schrieb ich: „Herr L. hat dies im besten Glauben getan, dadurch ein gutes Werk zu tun. Er gibt den unterbezahlten Straßenkolporteu- ren Ihres geschätzten Blattes von Montag bis Freitag je einen Schil- ling Trinkgeld und am Samstag deren zwei. Damit hat er den vollen Preis für die Sonntagsausgabe in der Weise beglichen, daß er eine

ABTEILUNG KÖRPERSCHAFT-

STEUER

/sie sind wohl [ noch neu hier

im amt 2

ordentliche Ausschüttung zukom- men lassen können. Herr X. opfert sich auf für Ihr Institut. Sie sollten ihm dafür dankbar sein, anstatt ihn mit moralisch haltlosen Pfändun- gen zu verfolgen! Hochachtungs- voll."

Langsam schwanden alle meine Skrupel. Es gab nichts, worüber ich nicht gegutachtet hätte: über Ur- laubsorte und Schnitzelfleisch ebenso wie über Gebrauchtautos und Theaterstücke. Ich schreckte vor nichts mehr zurück: ich stellte Zeugnisse über die Ehefähigkeit aus und lieh meinen guten, moralischen Rat jedem, der ihn haben wollte, und jenen, die ihn nicht wollten, auch.

Schließlich klopfte sogar irgend- ein Bezirksblatt an meine Tür. Ich möge doch so nett sein, mein Ruf sei mir vorausgeeilt, und eine kleine Kolumne schreiben, in der ich über all das gutachten solle, was einem so tagtäglich widerfährt.

Manchmal gerate ich inzwischen natürlich in ungeheure Interessens-

(Karikatur Löffler)

individuelle Umverteilung zugun- sten der Dritten Welt durchführte. Einem Mann mit derart hohen moralischen Denkansätzen werden Sie doch nicht unehrenhafte Ab- sichten unterstellen wollen. Glau- ben Sie mir, Herr L. folgte nur sei- nem Gewissen."

Und dann kam jener denkwürdi- ge, schwül-heiße Frühsommer- abend. An meiner Tür pochte es heftig. Ich öffnete und ein kleiner, unscheinbarer älterer Herr stand vor mir. Trotz der reichlich brüten- den Hitze trug er einen Trenchcoat und hatte seinen Schlapphut tief in die Stirne gezogen. Wie er mir mit seltsam flüsternder Stimme im Vorzimmer mitteilte, benötige er dringend ein Gutachten über die moralischen Qualitäten von Waf- fenexporten. Aber ich habe den Mann hinausgeschmissen. Waffen- exporte - nein, das war selbst mir zu heikel.

Den Rest der Geschichte las mir der Nachbarsjunge aus der Zeitung vor.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung