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Italiener klagen: „Wir sind Bürger zweiter Klasse...

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Viele in Südtirol lebende Italiener bereuen es jetzt, in der Schule beim obligatorischen Deutschunterricht nicht aufgepaßt zu haben oder gar mit des Lehrers Blick zum Himmel oder seinem Augenzwinkern der Deutschklasse ferngeblieben zu sein. Die schrittweise Anwendung des sogenannten „Paketes der Zugeständnisse“ Roms an die Südtiroler Bevölkerung ist bereits dort angelangt, wo die geringen Kenntnisse der zweiten Sprache sich verhängnisvoll auswirken können.

Jahrzehntelang haben die deutschsprachigen Südtiroler um ihre Autonomierechte gerungen. Unter Mussolini waren sie auf verlorenem Posten. Erst kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, als der Duce im Schlepptau seines mächtigen Protektors Adolf Hitler nicht mehr so sicher sein konnte, daß das ganze Gebiet südlich des Brenners auf ewige Zeiten italienischer Boden sein würde, wurde die „Zwangsitalia-nisierung“ eingedämmt. Doch bedurfte es leider der Terrorakte zwischen 1961 und 1965, daß die im Gru-ber-De-Gasperi-Abkommen von 1946 verankerten Autonomierechte auf Druck der in Den Haag und New York vorstellig gewordenen Wiener Regierung Ende der sechziger Jahre aktualisiert und seither schrittweise durchgesetzt werden konnten. Gemäß Fahrplan dieser Kompetenzabtretung von Rom beziehungsweise Trient an Bozen, geben jetzt bei den Bewerbungen um öffentliche Stellen die tatsächlichen Kenntnisse der anderen Sprache den Ausschlag, und im Ausleseverfahren müssen sich die Italiener mit der teutonischen Härte der Südtiroler Experten messen. Da fühlt sich mancher Italiener im eigenen Land als Bürger zweiter Klasse. Denn die lernbegierigeren Einheimischen geben mit ihren besseren Sprachkenntnissen den zugewanderten „Waischen“ -wie die Italiener in Südtirol genannt werden - da und dort immer wieder das Nachsehen.

Zweifellos hat das jetzige Wehklagen der „Waischen“ in Südtirol viele Gründe. So stellen die Italiener im großen und ganzen die Unterschicht im Oberetschtal dar. Die erst in den dreißiger-, vierziger- und fünfziger Jahren Zugewanderten - viele aus dem Süden - sind meistens als Arbeiter in der Industrie oder als Angestellte beim Staat beschäftigt. Die Einheimischen beherrschen Handel, Fremdenverkehr, Landwirtschaft, überhaupt den Grundbesitz. Sie haben nicht nur mehr Gut und Geld, sondern auch mehr Kinder, bessere Schulen, vor allem auch besseren Unterricht, um die zweite Sprache zu erlernen.

Mit und ohne Mussolini lebten viele Italiener mit der Uberzeugung, die deutsche Sprache würde südlich des Brenners von selbst aussterben; wie das Rätoromanische in Friaul und vielleicht auch in Graubünden. Seit bald zehn Jahren stehen jedoch die Südtirol-„Waischen“ nun mehr und mehr in einer Abwehrhaltung. Sie müssen Tag für Tag erleben oder hören, wie aller Charme und die größte Schlauheit wenig helfen, wenn es gilt, vor strengen „deitschen“ Richtern den Leistungsausweis für die Kenntnis von 5000, 2000, 1000 oder wenigstens 500 Wörtern der anderen Sprache zu erbringen. Die mehr oder minder gute Kenntnis der „anderen“ Sprache ist laut Autonomiestatut die Voraussetzung für die Annahme einer Bewerbung oder die Aufnahme im öffentlichen Dienst, einer Dorf-, Stadt-, Provinz-, Regional- oder Staatsverwaltung.

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