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Kirche heute: Dienst am Menschen Das „zweite Aggiomamento”

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Anfang der siebziger Jahre, als es von der Wiener Diözesansynode aus der Taufe gehoben wurde, wußte kaum jemand etwas mit ihm anzufangen; vor knapp zwei Jahren trat es mit Blickrichtung 1985 die Flucht nach vorne Ein, und heute, schon dem Ende dieses Jahrzehnts zu, scheint es zur Keimzelle der Erneuerung christlichen Lebens für die Kirche von Österreich zu werden: das Vikariat Unter dem Wienerwald mit seinen 212 Pfarren, 18 Dekanaten, 418.000 Einwohnern und 363.000 Katholiken. Den Aufschwung des religiösen Lebens mißt man heute wohl nicht mehr an „Kommunionkurven”, wie sie dem Bischof bei der Visitation vom Pfarrer früher vorgelegt wurden, und der geistliche Leiter einer Gemeinde wird auch nicht nach den Kirchenrestaurierungen und Orgelemeuerungen in seiner Amtszeit beurteilt Im Vikariat Süd - südlich der Donau - ist, wie es kürzlich bei der Vorstellung des „Fastenkalenders 77” in Wiener Neustadt ausgedrückt wurde, ein zweites post- konzüiares „Aggiomamento” zu spüren, ein Aufbruch, ein neues Gemeinschaftsdenken, ein Vikariatsbewußtsein.

Begonnen hat es nach Ansicht des Bischofsvikars Florian Kuntner wahrscheinlich mit den Pfarrgemein- deräten. Als erste „standen” diese Räte in der postkonziliaren Kirche Österreichs im Vikariat Unter dem Wienerwald, als erste wurden sie hier systematisch übers Wochenende in Klausur geschickt Der nächste Schritt war die zitierte Flucht nach vom in eine priesterarme Zukunft Während andere den Kopf zwischen die Schultern steckten und auf eine Trendumkehr beim Priestemachwuchs hofften, er- rechneten Kuntner und sein Team einen „Personalplan 1985”, aus dem hervorging, daß zu diesem Zeitpunkt von den 200 Pfarren des Vikariats genau die Hälfte ohne Priester sein werden.

Aus der Not entstand eine Tugend: Die Gemeinden, die im Zuge der Orts- zusammenlegungen ihr Gemeindebewußtsein zu verlieren drohten, wollten wenigstens, daß die Kirche im Dorf bliebe. Und nirgendwo sonst gibt es heute so viele Laien als Gemeindeleiter und Pastoralassistenten, so viele Diakone, Lektoren, Kommunionshelfer, wie bei den „Südlem”.

Die Erneuerung geht dabei jeweüs von kleinen Kerngruppen aus, die sich verstreut übers ganze Vikariat, von Schwechat bis Sachsenbrunn, von Puchberg am Schneeberg bis Hainburg bilden:

• Selbstbesteuerungsgruppen lassen zusätzlich zu der steuerlichen Belastungswelle des Versorgungsstaates Österreich monatlich 2 Prozent ihres Gehalts vom Konto abbuchen - für konkrete Partnerprojekte in der Dritten Welt, wie etwa einen Operationstisch für ein Buschspital in Zentralafrika.

• Eine kleine Sprengelgemeinde versuchte vergeblich, sich gegen die 12-

Millionen-Schilling-Restaurierung des kulturhistorisch und architektonisch unbestritten wertvollen Wiener Neustädter Domes durchzusetzen; als „Ausgleich” sammelten sie dann neben den trotzdem auf sich genommenen Beiträgen für den Dom innerhalb eines Jahres 200.000 Schilling für ein Dritte-WeltrProjekt.

• Einzelne Drei- bis Vierkinderfamilien versuchen die schönen Sprüche des „Fastenkalenders 77” - „Einfach anders leben”, „Sich von der Armut in der Welt beunruhigen lassen”, „Prestigedenken aufgeben” - zu verwirklichen, indem sie auf die neue Wohnungseinrichtung zugunsten des „Teilens” mit den Brüdern in der Dritten Welt oder auf den Neuwagen verzichten (und dafür einen „Käfer” aus dritter Hand kaufen).

• In Mödling wurde von der Pfarr- gemeinde St. Othmar im Rahmen einer. „Aktion Planquadrat” ein Sprengel mit 404 Wohnungen systematisch hausbesucht, mit dem Ergebnis, daß die festgestellten 20 Prozent Fernstehenden und die 50 Prozent „Auswahlchristen” - die aus dem Korb christlicher Einstellungen und Verhaltensweisen je nach Bedarf aus wählen und eine mittlere bis lose Bindung zur Kirche haben - durchaus ansprechbar waren und Antworten suchten auf Fragen nach dem Sinn des Lebens, Hilfen bei Ehekrisen und Erziehungsproblemen.

• Bei „Wüstentagen” mit dem halben Dutzend Kleiner Schwestern von Charles de Foucauld in Regelsbrunn bei Schwechat praktizieren Familien, vor allem auch Jugend, aus dem ganzen Vikariat gelebte Armut nach dem Vorbüd des großen Wüstenvaters.

• Zweitsiedler aus Wien, die ihre Wochenenden zur Erholung in der gesunden Landluft ihrer Wahlgemeinden verbringen, werden in den örtlichen Pfarrgemeinderat aufgenommen und arbeiten bei Gottesdienstgestaltung, Pfarrfesten und ähnlichem mit Sie werden in ihre Zweitgemeinden integriert, finden Anschluß, Freunde und sind keine Sonntagsfremdkörper in den Dörfern. Dasselbe gilt für die Zuwanderergemeinden, wie etwa Gießhübl, wo sich die Pfarrverant- wortlichen besonders um die Kinder der vielen jungen Familien kümmern.

„Kirche heute” heißt es in den regelmäßig erscheinenden „Modellen für Pfarrgemeinderäte und apostolische Gruppen” des Vikariats, „Kirche heute bedeutet in Rom, Wien, Baden, Wiener Neustadt Grünbach das Gleiche: Dienst am Menschen. In den letztgenannten Gemeinden scheint es jedenfalls relativ viel mehr Menschen als in Rom oder in Wien zu geben, die zu diesem Dienst in direkter, gelebter Nachfolge Christi bereit sind.

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