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Lainzer Impressionen

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Ich fahre im Auto und werde von zwei Seiten über Lainz informiert - mit dem Erfolg, daß ich erst recht nichts darüber weiß. Ich habe ein flaues Gefühl im Magen - wie wird es dort, aussehen, was werde ich machen, welchen Leuten werde ich begegnen? - Fragen, Fragen und keine befriedigende Antwort.

Vor dem Tor in Lainz warten einige Mädchen, älter als ich oder gleichaltrig - Warten, Reden, Lachen, Vorstellen. Endlich marschieren wir los - ich werde einfach mitgeschleift- Pavillon 11, Wasserbetten, ein Mädchen mit M. S., sie ist 27 und gelähmt, kann nur noch Kopf und Arme bewegen, aber sie kann lachen, über sich selber, über ihre Krankheit, über die Schwestern, die auch aus dem Burgenland sind, darüber, daß es einmal etwas ganz arideres gewesen ist, Weihnachten im Wasserbett zu verbringen. Aber sie hat eine Familie, sie schwärmt von dieser Familie.

Ich verlasse das Zimmer mit dem Versprechen, wiederzukommen - nie mehr, denke ich und meine es ernst. Es ist schrecklich, Menschen leiden zu sehen und selber nichts tun zu können. Ich bedauere dieses Mädchen, aber ich kann sie nicht mehr besuchen.

Während wir zum nächsten Pavillion gehen - Nummer 5 - zweifle ich an der Gerechtigkeit Gottes, vielleicht sogar an meinem Glauben. Vor dem Pavillon stehen einige trostlose Gestalten. Wenn man sie anspricht, lächeln sie oder versuchen es zumindest. Geistig Behinderte, Körperbehinderte, schiefe Zähne, Lallen, abgestandener, milchiger Kaffee, Tee, einige Semmeln, die altbacken aussehen, Spitalsgeruch, Schwestern, lange Gänge, die unter meinen Absätzen hallen.

Qbwohl es September und auch noch warm ist, ist mir kalt, hier herinnen ist es kalt - eine schreckliche Kälte durchfahrt mich. Ich habe kein Recht so zu leben, ich kann laufen, Sport betreiben, ich kann gehen, wohin ich will, essen, was ich will - wer gibt mir das Recht dazu?

In einem Zimmer bleibe ich „hängen“ - ein beklemmendes Gefühl, mißtrauische Blicke, es wird wenig gesprochen. Ein Mädchen, Epileptikerin, 27, schief, kommt auf mich zu, sie hat ein Buch in der Hand, ich soll ihr vorlesen - Heidi. Ich verstehe kaum, was diese Menschen sagen, was sie mir zeigen wollen. Viele haben Sprachfehler, ich habe ein schreckliches Würgen in der Kehle - ich will hinaus, hinaus!

Ich komme mir vor, als würde ich diese Menschen nur beobachten, wie andere seltene Tiere beobachten, nur' daß ich keinen Eintritt zahlen muß.

Wie soll ich helfen, was kann ich tun? - Augen zu, nicht mehr hingehen und dieses Leiden sehen - ich gehe nicht mehr nach Lainz -, das ist mein fester Vorsatz. Vielleicht kann ich beten für diese Menschen - beten?! Gar nichts, ich kann gar nichts tun, ich bin machtlos, zum ersten Mal sehe ich wirkliche Grenzen, Hindernisse, die ich nicht überwinden kann, ich bin mit meiner Weisheit am Ende.

Nachher gehen wir in ein Beisei, wir redep gar nicht viel über Lainz. Als ich gefragt werde, was ich empfinde, kann ich nichts sagen. Im Moment empfinde ich auch nichts, überhaupt nichts - doch! - ich empfinde eine schreckliche Leere. Irgendwo hinlaufen, weglaufen vor allem, an nichts denken müssen.

Ganz entgegen meiner sonstigen Gewohnheit bin ich sehr schweigsam, als ich nach Hause komme. Ich nehme mir vor, nicht mehr an Lainz zu denken, nicht mehr hinzugehen. Man soll die Leute doch in Ruhe lassen, ihnen nichts vorspielen von einer heilen Welt, keinen Rat geben, ihnen nicht gesunde junge Menschen hinschicken und ihnen damit nicht das Gefühl geben, daß sie minder- wärtig sind.

Ich gehe in die Vorabendmesse - ich kann schwer beten, wie ist das mit der Nächstenliebe, mit der Gerechtigkeit Gottes, mit der christlichen Hilfsbereitschaft?

Meine Mutter fragt, ob mir schlecht sei, ich bin weiß im Gesicht, ich rede kaum. Ich sitze in der Küche und rauche eine Zigarette, und plötzlich fange ich an zu weinen. Gefragt warum, kann ich keine Antwort geben - es ist schrecklich, alles ist schrecklich - das ist alles, was ich herausbringe. In manchen Punkten bin ich ein sehr labiler Mensch; meine Mutter meint, es wäre besser, nicht mehr nach Lainz zu gehen, wenn mich das so mitnähme - sie hat recht, ich werde Lainz vergessen.

Ich vergesse Lainz eine ganze Woche lang, ich denke nicht mehr daran, ich lebe so weiter wie vorher, ich fühle mich glücklich. Eine Woche später werde ich angerufen, ob ich wieder mit nach Lainz fahren will; meine Antwort ist sehr schnell, ich will nicht. Wieder eine Woche, in der ich alles erfolgreich vergesse und noch eine. Plötzlich am Freitagabend ist meine Entscheidung gefallen, morgen gehe ich nach Lainz, ich weiß eigentlich nicht, warum ich gehen will, aber ich will.

Diesmal warten mehr junge Menschen; wieder besuche ich dieselben Leute, aber mit einer ganz anderen Einstellung. Es riecht noch immer nach Spital, ich verstehe noch immer nicht alles, was gesprochen wird, aber dąs zählt eigentlich gar nicht. Ich habe noch immer Mitleid, aber ich leide nicht mit.

Eine Frau hält meine Hand; ich weiß, daß sie nicht sehr zugänglich, sondern eher mißtrauisch ist. Sie freue sich sehr, daß ich wiedergekommen sei. Nach und nach erfahre ich einiges aus ihrem Leben - noch lange nicht alles. Sie ist ängstlich, man muß ihr Zeit geben, man muß warten; ich frage sie nicht sehr viel, ich dringe nicht in sie, ich erzähle ihr ein wenig von mir - ich weiß, daß ich wiederkommen werde, und sie weiß es auch.

Seither gehe ich regelmäßig nach Lainz, und immer erfahre ich ein bißchen mehr. Ich kann mir ein Leben ohne Lainzbesuche gar nicht mehr vorstellen. Jemand wartet auf mich, freut sich über eine Karte, die ich schreibe, gratuliert mir zum Geburtstag. Ich kann nicht viel helfen, etwas Wäsche waschen, Kaffee mitnehmen. Trotzdem sehe ich oft Freude, ein Lachen, ein freudiges Gesicht, wenn man mich sieht; jemand nimmt Anteil an meinem Leben, wie ich an seinem. Ich habe mich früher nicht so wichtig genommen - nicht daß ich jetzt überheblich wäre -, aber ich weiß, daß mich jemand braucht, auf mich wartet, mich vermissen würde, wenn ich nicht käme. Ich kann Freude bringen und bekomme gleichzeitig sehr viel Liebe zurück, vielleicht sogar mehr als ich „investiert“ habe.

Ich kann niemandem einen Tip geben, wie er'sich in Lainz verhalten soll - ich will es auch gar nicht, weil ich glaube, daß jeder seine eigene Art finden muß, mit der er Freude bringen kann. Das schöne ist, daß jeder Mensch verschieden ist und daß auf verschiedene Weise Ähnliches erreicht werden kann. Ich kann nur Freunde einladen, nach Lainz zu kommen, Lainz zu erleben!

(Die Verfasserin ist ein 21jähriges Mädchen. Die Gruppe, der sie angehört, erhielt 1978 einen der Jugendpreise der Ersten österreichischen Spar-Casse.)

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