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Liebe Bahn

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Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn, wenn nicht da? Reden nämlich und schreiben. Vom Zugfahren. Da es doch die Stinker und Brummer tun sollen, da doch alle ihre Blechkarossen verlassen und sich der Umweltfreundlichen anvertrauen sollen, da die neue Bahn, wenn schon nicht in aller Munde, so doch auf Prospekten und Plakaten ist, und besonders da ich es leidenschaftlich gerne mache.

Sage mir keiner, der Zauber des Bahnfahrens sei mit der letzten Dampflokomotive verschwunden. Er überkommt mich schon beim telephonischen Auskunfteinholen, beim Fahrkartenkaufen, und vollends beim Betreten des halligen Bahnsteigs mit seinen unverständlichen Durchsagen und den lebensgefährlich über die Gleisanlagen rasenden Gepäckkarren.

Doch die Bedenken, die mich, umhüllt vom Flair der großen Welt, beim Betreten des Waggons unweigerlich befallen, seien ebenfalls notiert. Wer wird im sorgsam reservierten Abteil neben mir und gegenüber sitzen? Denn: Wer aller saß da schon während der ungezählten Fahrstunden?

Die alte Dame, die, kaum die Stadtgrenze überrollt habend, ihr Käsebrot auspackte und diesem einen, zweihundert Kilometer weit, eins ums andere folgen ließ?

Die selbstbewußte, ihre Eigenschaft plakativ vor sich hertragende Mutter und ihre zwei entzückenden Sprößlinge, die Schuhe und Schokoladehände an meinen Hosenbeinen abwischten, tobten, weinten, brüllten, die ganze Strek-ke lang?

Der Opa, dem's bei geschlossenem Fenster zog und der der Heizung alles abverlangte, wobei die Coupetüre dicht geschlossen bleiben mußte?

Die zwei Geschäftsreisenden, die ihre künftigen Handelsbeziehungen an Hand rundum aufgebreiteter Unterlagen über drei Landeshauptstädte hinweg lauthals besprachen?

Die Mädchenklasse, die mit ständigem Kontakt zu den Nachbarabteilen die störende Minderheit aller Mitreisenden für drei Stunden terrorisierte?

Das Liebespaar, dem die Nachtbeleuchtung zu hell und die freien Plätze zu schmal waren?

Das Fräulein, das mit Augenaufschlag alle fünf Minuten einen ihrer Koffer aus dem Netz zu heben verlangte?

Ich habe, das Filmfluidum des legendären Orientexpresses kaum je erlebt habend, den neuen Großraumwagen aufgesucht, Heil und Ruhe heischend. Flugzeugähnlich ladet er in Fahrtrichtung zum scheinbar ungestörten Reisen ein. Doch ins Gefecht ziehende Fußballvereine und von der Betriebsfeier heimkehrende Firmenbelegschaften lassen den Einzelfahrer zu einer vernachlässigbaren Nebenerscheinung werden, kein Paragraph der Welt gewährt ihm Schutz und Schonung.

Aber ich tröste mich. Hier, so sage ich zu mir, darf ich Demokratie live und hautnah miterleben. Ich habe Ohr und Hand, ja sogar Zehen, Kniescheiben und Nase am Puls des Geschehens. Weil dieses attraktive Verkehrsmittel zwar elitär, aber für alle da ist.

Drum habe ich, wenn ich mit Verspätung über die steilen Waggonstufen auf den Perron meines Zielbahnhofs stolpere und mich mangels eines Kofferkulis mit meinem Gepäck zum Ausgang schwitze, schon die Platzkarte für die nächste Zugfahrt in der Tasche. Alle reden von der Bequemlichkeit. Ich rede von der Bahn.

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