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Millionen auf der Flucht

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Von den rund 17,5 Millionen Deutschen, die östlich der Grenzen des Deutschen Reichs (und Österreichs) vordem Krieg gelebt hatten, fielen etwa 1,1 Millionen im Krieg, 2,5 Millionen konnten in der Heimat bleiben. Mehr als zwei Millionen starben auf der Flucht oder während der Vertreibung. Zwölf Millionen Ostdeutsche erreichten den Westen, rechnet der Völkerrechtler Alfred M. de Zayas nach.

Nicht Stalin, Churchill oder Roose-velt hatten die Idee geboren, die Deutschen aus den wiederbefreiten Oststaaten zu vertreiben. Eduard BeneS, Präsident der tschechoslowakischen Exilregierung in London, wollte eine Groß-Tschechoslowakei ohne deutsche Minderheit, die ihm einst das Diktat von München eingebrockt hatte.

Aber da Stalin keine Absicht hatte, die von Hitler konzedierte Beute von 1939/40 wieder herauszugeben, sollte Polen auf deutsche Kosten entschädigt werden - und die zehn Millionen Deutsche ostwärts von Oder und Neiße mußten verschwinden.

Die Vertreibung war nur eine Facette im Bild der Völkerwanderung des 20. Jahrhunderts. Sie selbst war nichts Neues, waren doch schon 1923 zwei Millionen Griechen und Türken zwangsweise gegeneinander ausgetauscht worden.

Hitler selbst baute die Umsiedlung zu einem integrierenden Bestandteil seiner Volkstumspolitik, zur Sicherung des „deutschen Lebensraumes" aus. Südtiroler, Baltendeutsche, Bukowinadeutsche wurden in das Reich und seine Neugebiete geholt. Juden aus ganz Europa füllten zuerst die Gettos in Polen, dann die Vernichtungslager. Eine halbe Million Polen wurden ausden annektierten Gebieten in das Generalgouvernement umgesiedelt, über eine Million

Polen als „Ostarbeiter" in das Reich deportiert.

Als dann die Welle zurückschlug, war es die deutsche Zivilbevölkerung, die unter die Räder des Kriegs geriet. Weil die Parteiführer in den meisten Fällen zu spät die von der Roten Armee bedrohten Gebiete räumen ließen, setzten sich die Trecks erst in Bewegung, wenn der Kanonendonner schon zu hören war. Wo die Front die Flüchtlinge überrollte, reagierten die aufgehetzten Soldaten ihren Haß auf den Feind an dessen Frauen und Töchtern ab.

Wo die Besatzer dann ihre Etappenverwaltung einrichteten, verschleppten sie die zurückgebliebenen Frauen und Greise zur „Wiedergutmachung" in den Osten.

(Foto aus: Flucht und Vertreibung, Holtmann & Campe, 1980)

Aber es gab auch andere - etwa den Major der Sowjetarmee, Lew Kopelew, der dann selbst, weil er offene Gewalttaten gegen deutsche Zivilisten verhindert hatte, in die Maschinerie der Sowjetjustiz geriet.

Dieses Schlußkapitel des Zweiten Weltkrieges - der letzte Umsiedlertransport aus Polen traf 1950 in der Bundesrepublik ein - kann wohl erst jetzt, 35 Jahre später, historisch aufgearbeitet werden, auch wenn die sowjetischen Archive westlichen Historikern noch nicht offen stehen. Und es kann wohl nur dann aufgearbeitet werden, wenn man - ohne gegenseitig eine Schuld aufrechnen zu wollen - die Untaten und Leiden beider Seiten der Front, besser der Menschen aller betroffenen Völker - nebeneinanderstellt. Wenn man die Wurzeln des deutschpolnischen Konflikts bis ins Mittelalter verfolgt und den russischen Anteil an den polnischen Teilungen nicht vergißt.

Frank Grube und Gerhard Richter, beide erst nach der Katastrophe geboren, haben in diesem Werk Augenzeugen und Historiker aufgeboten, um die einzelnen Aspekte dieser Völkerwanderung abzustecken, um zu zeigen, was war, wie es war.

Seither hat die Völkerwanderung keineswegs aufgehört, sie hat sich lediglich territorial verschoben. Bis zu den Flüchtlingen aus Vietnam und Kambodscha, die in Österreich Asyl finden, bis zu den Menschen aus El Salvador, die nach Costa Rica flüchten, bis zu den Cubanern, die in der US-Botschaft auf ihr Visum für die Staaten warten—Menschen auf der Flucht, damals wie heute. Wie lange noch?

FLUCHT UND VERTREIBUNG - Deutschland zwischen 1944 und 1947. Von Frank Grube und Gerhard Richter (hg). Hoffmann & Campe 1980, 240 Seiten, öS 292,60. rur Sie ausgewählt

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