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Relativitätspraxis

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Jeder kennt die eigenartigen aufsteigenden Töne im Radio, die ganz tief beginnen, langsam höher werden und schließlich an die Grenze gelangen, nach deren Überschreiten sie eine Tonfrequenz erreichen, die für uns nicht mehr wahrnehmbar ist. Für den einen ist die Grenze bei höherer Frequenz, für den anderen bei niedrigerer. Junge Menschen hören noch höhere Töne als alte, wahrscheinlich weil ihre Trommelfelle noch kleiner und gespannter sind. Daher können sie höhere Schwingungen aufnehmen. Eine kurze, straff gespannte Saite erzeugt höhere Töne als eine längere und schlaffere. Das korrespondiert miteinander. Ein Hund oder gar eine Fledermaus wird den Ton aus dem Radio sicher noch länger hören als ein Mensch. Woher der Ton kommt und wozu er gut ist, weiß ich nicht, auch nicht, wo er schließlich bleibt, für mich existiert er dann eben nicht mehr, und es ging mich ja auch bisher nichts an. Höchstens weil er die Sendung stört.

Wenn man bedenkt, was alles an Wellen in der Luft rumschwirrt. Sonst könnte man ja nicht Radio hören. Sämtliche Wellen der verschiedenen Sender müssen immer um einen rum und in einem drin sein. Besonders wohl, wenn man sozusagen Antenne beim Radio spielt, wenn man es also anfaßt, und es wird lauter oder der Sender kommt besser rein. Ich hab mal gehört, bei einem Haus, das nahe bei einem Funkstudio war, kam Musik’ aus der Heizung. Irgendwelche Wellen sollen da mit der Struktur des Heizungsapparates so koordiniert gewesen sein, zufällig, daß die Heizung zu schwingen anfing und dadurch zum Radioapparat wurde. Die elektrischen Wellen brauchten gar nicht erst kompliziert umgesetzt zu werden in mechanische. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Ich versteh auch zuwenig davon. Jedenfalls störte mich dieser eigenartige Ton immer.

Neulich war er wieder im Radio. Da hörte ich meine Frau mit ganz hoher und ganz schneller Stimme aus der Küche fragen: „Warum reden die im Radio denn plötzlich so tief und langsam?” Ich fand gar nicht, daß sie tiefer und langsamer redeten als gewöhnlich. Ich fragte zurück: „Warum piepst du denn plötzlich und so schnell wie eine Schallplatte auf verkehrter Geschwindigkeit?” Und sie piepste wieder: „Laß doch den Blödsinn, und sprich normal!” Und ihre Stimme wurde höher und schneller. Und im Radio war wieder dieser komische ansteigende Ton. Da schaltete ich ab.

Meine Frau fragte — wieder ganz normal —: „Warum schaltest du denn jetzt ab?”, und ich sagte ihr, daß ich den Ton nicht ertragen könne. Sie sagte, sie hätte ihn nicht gehört. Nach einer Weile schaltete ich das Radio wieder ein. Aber bald fing der Ton wieder an. Ganz tief unten, so bei 16 Schwingungen pro Sekunde vielleicht. Meine Frau redete irgendwas, aber ich verstand sie nicht, weil sie ganz tief und ganz langsam sprach. Ich wußte nicht recht, was das sollte, und ging in die Küche, um zu sehen, was los war. Da stand meine Frau riesengroß, so daß ich zuerst nur ihre Beine sah. Langsam wurde sie kleiner, und je kleiner sie wurde, desto normaler wurde ihre Stimme. Als sie so groß war wie gewöhnlich, sprach sie auch mit normaler Stimme und normal schnell. Aber sie wurde immer kleiner, sprach immer höher und schneller. Und der Ton im Radio wurde auch immer höher und unerträglicher. Schließlich war meine Frau so klein geworden, daß ich sie nicht mehr sah. In dem gleichen Augenblick hatte auch der Radioton die Grenze des Noch-Hörbaren überschritten. Frau und Ton waren weg. Ich lief wieder in das Zimmer und drehte das Radio ab. Als ich in die Küche kam, stand meine Frau ganz verstört da. Sie wollte, daß ich einen Arzt anriefe, denn sie fühlte sich nicht gut, sagte sie. Sie hätte eben geglaubt, ich wäre ganz klein gewesen und dann mit einmal riesig groß geworden. Und die im Radio hätten wieder angefangen, ganz tief und ganz langsam zu sprechen. Den Ton hatte sie nicht gehört Ich wußte nicht recht, was ich machen sollte. Schließlich hat jedermal solche Vorstellungen, und das geht dann wieder vorbei. Ich sagte meiner Frau, sie sollte aufhören, in der Küche zu arbeiten, das wäre wohl zuviel für sie, und außerdem am Sonntag. Verstört setzte sie sich zu mir ins Zimmer, und ich stellte das Radio wieder an. Es dau erte aber nicht lange, da kommt wieder dieser Ton. Und ich sah gleich, wie meine Frau wieder kleiner wird und es mit der Angst kriegt. Ich bin jetzt aber auch nervös, denn das ist doch unnatürlich. Ich dreh wieder ab.

Inzwischen ist mir alles klar geworden: Ich höre die Leute im Radio ganz normal sprechen, und das tun sie ja wohl auch. Dann kommt der Ton mit seiner steigenden Frequenz. Meine Frau hört den Ton, wenn überhaupt, nur in gleichbleibender Höhe und die anderen Geräusche immer langsamer und tiefer, da die Frequenz des Tones und die der Stimmen auf jeden Fall in konstantem Verhältnis zueinander stehen. Dabei wird sie kleiner. Das ist auch klar: Ihr Trommelfell paßt sich dem Ton an, indem es immer kleiner wird. Nur so kann sie den Ton als gleichbleibend hoch empfinden. Und für sie wird alles andere langsamer, die Frequenzen der Sprecher und mein Sprechen; ihr ganzes Leben wird schneller.

Seit ich das weiß, stell ich das Radio nicht mehr an, denn ich hab ja keine Ahnung, wo der Ton letzten Endes bleibt, und das heißt, ich weiß auch nicht, wo meine Frau letzten Endes bliebe. Vielleicht wird der Ton unendlich hoch, und dann wäre meine Frau endgültig ganz weg. Oder sie würde so schnell leben, daß innerhalb von ein paar Minuten ihr Leben zu Ende wäre.

Ich werde einen neuen Radioapparat besorgen, in dem nicht so ein Ton dazwischenkommt. Den alten Apparat werde ich verkaufen. Ich werde den Käufer wegen des Tones warnen, das muß ich wohl. Aber sicher sind nicht viele so empfindlich wie meine Frau.

Wichtig für Autoren

Am 11. Februar endet die Einreichungsfrist für Ansuchen um Förderung durch den „Wiener Kunstfonds” der Zentralsparkasse. Gefördert werden „künstlerische Vorhaben und Projekte aus allen Bereichen des Wiener Kunstgeschehens”. Der Bewerbung soll ein konkretes künstlerisches Vorhaben zugrundeliegen, das in einem vom Kulturreferat der Zentralsparkasse ausgegebenen Fragebogen beschrieben und - „nach Möglichkeit” - belegt werden muß. Unterlagen und Auskünfte vom Külturrefe- rat der Zentralsparkasse der Gemeinde Wien, Wien 3, Landstraßer Hauptstraße 5, Zimmer 208, Telephon 72 92 884 und 885.

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