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Seminar für neue Musik

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Durch die letzten beiden Konzerte wurde die da und dort geäußerte Meinung bestätigt, die Wiener Festwochen seien unter anderem auch zum Zweck der physischen Vernichtung der Kritiker ersonnen. Denn nachdem diese vier Wochen lang Abend für Abend im pausenlosen Einsatz gestanden waren, setzte man ohne jeden ersichtlichen Grund das vorletzte Konzert um 22 Uhr an und dehnte das letzte bis Mitternacht aus. Für diese Abende hatte man The London Sinfonietta gewonnen. Sie wurde als erweitertes Kammerorchester vor drei Jahren gegründet, sieht ihre Hauptaufgabe in der Aufführung neuer und neuester, besonders englischer Musik und ist durch häufige Auslandstoumeen und Schallplattenproduktionen vollbeschäftigt. Den Charakter eines geschlossenen Ensembles dokumentieren die 33 Mitglieder durch eine Art Uniform: blaue Pullover und schwarze Hosen, die auch der Dirigent des ersten Konzertes, Luciano Berio, trug.

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Durch die letzten beiden Konzerte wurde die da und dort geäußerte Meinung bestätigt, die Wiener Festwochen seien unter anderem auch zum Zweck der physischen Vernichtung der Kritiker ersonnen. Denn nachdem diese vier Wochen lang Abend für Abend im pausenlosen Einsatz gestanden waren, setzte man ohne jeden ersichtlichen Grund das vorletzte Konzert um 22 Uhr an und dehnte das letzte bis Mitternacht aus. Für diese Abende hatte man The London Sinfonietta gewonnen. Sie wurde als erweitertes Kammerorchester vor drei Jahren gegründet, sieht ihre Hauptaufgabe in der Aufführung neuer und neuester, besonders englischer Musik und ist durch häufige Auslandstoumeen und Schallplattenproduktionen vollbeschäftigt. Den Charakter eines geschlossenen Ensembles dokumentieren die 33 Mitglieder durch eine Art Uniform: blaue Pullover und schwarze Hosen, die auch der Dirigent des ersten Konzertes, Luciano Berio, trug.

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In allen seinen Vokalkompositionen versucht Berio, das Potential der menschlichen Stimme zu erweitern. Er tut dies fachkundig, mit größtem Raffinement und untrüglichem Sinn für Effekt. Für „Chamber Music“ von 1953 wählte er drei Gedichte aus der gleichnamigen Sammlung von James Joyce und setzte sie für Stimme, Klarinette, Violoncello und Harfe. (Cathy Ber- berian war die virtuose Interpretin.)

Eine von Berios letzten Kompositionen ist die Arie für Sopran, die er 1970 auf Textfragmente von Monteverdis Orfeo-Libretto schrieb, wobei die Stimme überaus kunstvoll und ein wenig barockisierend geführt und von drei Streichern nebst Klavier begleitet wird. Die Interpretin war Elise Ross mit einem kleinen, aber gut ausgebildeten und flexiblen Sopran. Sie sang auch die „O King“ benannte lyrische Huldigung an Dr. Martin Luther King, dessen Namen die klangliche Basis der Komposition bildet. Winzige Stückchen von Strawinsky aus den Jahren 1915 bis 1917 sowie ein kurzes Stück für sechs Bläser von Peter Maxwell Davies, das man trotz seines Anspruchs und Titels („Alma redemptoris ma- ter“) zu den entbehrlichen Kompositionen zählen muß, komplettierten den 1. Teil.

Phantasievoll, fesselnd, klanglich überaus raffiniert präsentierte sich „Laborintus II“ von Berio für drei Solostimmen, acht Sprechstimmen, Narrator und 17 Instrumente nebst Tonband. Hier trat das gesamte Ensemble der „London Sinfonietta“ in Aktion und verwirklichte unter der Leitung des Komponisten dessen ebenso kühne wie geglückte Vision der Welt Dantes, aus dessen Werken die meisten Zitate stammen und die durch formal und semantisch ent sprechende Texte von Eliot, Ezra Pound und Sanguinette ergänzt werden. Die Vermischung von Italienisch und Englisch erweist sich jedoch als recht ungut, und daß Cathy Ber- berian die Partie des Narrators englisch sprach, war ein Snobismus.

Das zweite Konzert der „London Sinfonietta“ und zugleich das letzte der Festwochen hatte didaktischen Charakter. Statt des angekündigten „Open House“ von 20 bis 24 Uhr gab es ein Seminar über neueste Musik unter der Leitung von Pierre Boulez. Die Demonstrationsobjekte hießen: „Verses for Ensembles“ von Harrison Birtwistle, „Zeitmaße“ von Stockhausen und „Domaines“ von Boulez. Vor dem Podium war ein breiter Raum für das Orchester freigemacht, das Publikum saß drum herum, auf den Galerien, auf dem Podium und im gutbesuchten Saal. Ungewohnt an solche Veranstaltungen, erschien man pünktlich und stellte nur schüchterne, allerdings auch fast nur sachbezogene Fragen, wie Boulez es gewünscht hatte.

In Birtwistles Komposition für Bläser, großes Schlagwerk und drei, •-Xylophone spielt- ein konzertierendes. Horn die Hauptrolle. Um die Struktur zu verdeutlichen, gehen einzelne Instrumentalisten manchmal umher und tauschen die Plätze, es gibt in dem ziemlich spröden Stück auch schöne, wohlklingende Bläserpassagen, und es gab für Boulez allerlei zu erklären und zu kommentieren. Vor allem durch die Perfektion und Sicherheit des Vortrags gefielen Stockhausens „Zeitmasse“ von 1956, in denen Boulez die Synthese von Organisation und persönlichem Ausdruck verwirklicht sieht. Sein eigenes Stück „Domaines“ ist erst 1968 entstanden. Die 21 Instrumentalisten sind stemartig gruppiert, zwischen ihnen zirkulierte der Soloklarinettist, es war der querschnittgelähmte Alan Hacker in einem Rollstuhl, und gab die Themen, die von den einzelnen Gruppen variiert wurden. Es gab also auch ein wenig äußerliche Bewegung in diesem strengen Seminar, das von Boulez — in deutscher Sprache — souverän geleitet und dessen Musikbeispiele die hervorragenden Instrumentalisten des Sinfonietta-Ensem- bles mit exemplarischer Deutlichkeit vortrugen.

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