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Teppichkonzerte

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Immer noch streiken die Orchestermitglieder der New Yorker Philharmonie — aber wegen der vielen in- und ausländischen Gastorchester, die sich in New York produzieren (zuletzt waren es die Leningrader), weint niemand den New Yorkern eine Träne nach, und es wäre nicht überraschend, wenn plötzlich die ganze Saison gestrichen würde. Nur ist es traurig, daß gerade jetzt Pierre Boulez, der bisher unter Abonen-tenschwund, Hustenanfällen oder Exodus vieler Hörer während der Aufführungen leiden mußte, endlich seinen großen Erfolg gefunden hatte. Nach vielen Vorwürfen über zuviel zeitgenössische Werke, trocken anmutende Interpretation von klassischer Musik u. a. war auf einmal der große Erfolg da. Boulez hatte seinen eigenen Stil, ja auch sein eigenes Publikum gefunden, wurde umjubelt und immer wieder aufs Podium gerufen.

Was diesen Umschwung bewirkte, waren die sogenannten „Teppichkonzerte“, die Boulez innerhalb einer Woche in der Philharmonischen Halle dirigierte. Das Parkett war auagarattmUi MStelle der-Sitae^ ren Teppiche über den Bode' spannt und mit kleinen Schaumkissen bestreut. Auch die Bühne war teppichbedeckt, und die Halle war von einer Herde hockender, liegender kauernder junger Menschen okkupiert. Das Orchester saß in der Mitte der Halle, von psychedelischen Lichteffekten umspielt. Der Preis war der eines Kinositzes (unnumeriert). Für ältere Semester gab es erhöhte Preise auf der Galerie und in den Logen, von wo aus man die Kauernden oder Liegenden im Parkett bestaunen konnte. Alles hörte bewegungslos und mit tiefster Aufmerksamkeit der Musik zu. Boulez war sichtlich in seinem Element. Die Programme (teils für eine Gruppe von 70 oder eine Gruppe von 35 Orchestermitgliedern geplant) boten eine ausgezeichnete Mischung von alt, neu, klassisch und romantisch.

Die „Freischütz“-Ouvertüre, Stücke von Charles Ives und der bewährte Boulez-Schlager, Strawinskys „Feuervogel“ hatten lautstarken Erfolg. Das Kammerorchester am nächsten Abend brachte ein Brandenburgisches Konzert, die Streichersuite Opus 5 von Webern, eine Haydn-Symphonie und ein Werk des pulitzerpreis-gekrönten Amerikaners George Crumb. Was aber das tep-pich-sitzende Publikum am meisten begeisterte und zum stärksten Applaus veranlaßte, waren Werke von Stockhausen (Kontrapunkte), Bartök (Konzert für Orchester) und wieder Webern (Sechs Orchesterstücke) — alles Kompositionen, die Boulez schon in der letzten Spielzeit einstudiert hatte, die aber vom Publikum, das in seinen bequemen Sitzen meditierte, viel zurückhaltender aufgenommen worden waren.

Teppichkonzerte sind nicht für Prominente — trotzdem in einem Konzert Dimitri Schostakowitsch in isjütkariertem ..-Hemd aucb.*(^.*dem-Teppich saß und sich dann sog^r. mit Boulez und einigen jungen Leuten photographieren ließ: Es waren die Konzerte, in denen Boulez plötzlich sein neues New Yorker Publikum fand. Diese Konzerte mit dem freudigen Lachen des Dirigenten und seinem gelösten Musizieren sind es, die rund 30.000 jungen Menschen fehlen — sie waren ein so gutes Omen für die Zukunft der kommenden Boulez-Direktion an der Philharmonie gewesen, und die Enttäuschung über das vorläufige Ausbleiben dieser Konzerte ist groß. Zumal das Logenpublikum mit Ormandys Philadelphia Orche-strä oder Soltis Chicago Symphony und deren konservativen Programmen genau so zufrieden ist wie bisher.

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