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In delikater Kühle...

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Pierre Boulez, Jahrgang 1925, war Schüler von Messiaen und Leibowitz in Paris, Mitarbeiter am Theätre Margny und gründete 1953 „Le Domaine Musical“, das zur Hochburg der jeweiligen Avantgarde in Frankreich wurde. Mehrere seiner bahnbrechenden Werke haben wir in der „Furche“ besprochen. Während der letzten Jahre hat Boulez wenig, fast nichts produziert, um so häufiger dagegen dirigiert. Ab nächster Saison ist er Nachfolger von Leonard Bernstein bei den New Yorker Philharmonikern.

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Pierre Boulez, Jahrgang 1925, war Schüler von Messiaen und Leibowitz in Paris, Mitarbeiter am Theätre Margny und gründete 1953 „Le Domaine Musical“, das zur Hochburg der jeweiligen Avantgarde in Frankreich wurde. Mehrere seiner bahnbrechenden Werke haben wir in der „Furche“ besprochen. Während der letzten Jahre hat Boulez wenig, fast nichts produziert, um so häufiger dagegen dirigiert. Ab nächster Saison ist er Nachfolger von Leonard Bernstein bei den New Yorker Philharmonikern.

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Von den vier Werken, die Boulez auf das Programm seines 1. Konzerts gesetzt hat, ragen Schönbergs „Fünf Orchesterstücke“ op. 16 als ein Meisterwerk heraus, das dank der beiden mittleren Teile mit den Titel „Vergangenes“ und „Farben“ die Zeit überstehen dürfte. Sie haben etwas von der Feinheit Weberns und dem klanglichen Reiz Bergs. (Die übrigen Sätze des bereits 1919 geschriebenen und vierzig Jahre später gründlich revidierten Werkes lauten: „Vorgefühle“, „Peripetie“ und „Das obligate Rezitativ.“) — Gleichfalls dem programmatischen Expressionismus verhaftet ist die viel später (um 1930) entstandene „Begleitmusik zu einer Lichtspielszene“, die an dieser Stelle vor kurzem besprochen wurde. — Liest man in Weberns Briefen und Schriften, was sich der Komponist bei seinen verschiedenen Werken dachte, was er ausdrücken wollte und womit er sie assoziierte, so mag einem der Mut schwinden, irgend etwas darüber zu sagen. Registriert man, daß sich diese Symphonie op. 21 für vier Bläser, Harfe und Streicher aus dem Jähre 1928 (also vor 40 Jahren entstanden), und die Variationen op. 30, die zu Weberns letzten Kompositionen gehören, kaum anders als zur Zeit ihrer Entstehung anhören und untereinander kaum verschieden sind, so bedeutet dies, was die Popularität Weberns betrifft, kein gutes Vorzeicnen. — Alban Berffs „Drei Orchesterstücke“ op. C— 1914 begonnen und 1929, revidiert, dem Lehrer Arnold Schönberg gewidmet — bezeugen Bergs einzigen Versuch, sich mit der großen symphonischen Form Mahlerscher Prägung auseinanderzusetzen. Entstanden ist ein einidruckswolles, stilistisch zwitterhaftes Werk — das trotz seiner Schrwierigkeiiiten immer wieder gespielt wird. — Pierre Boulez ist wohl einer der gründlichsten Kenner der Wiener Schule. Seine Interpretation verrät unbedingte Autorität, die sich (auch ohne Taktstock) dem Orchester und dem Publikum mitteilt. Das hervorragende London Symphony Orchestra steuert nicht nur Präzission und Klangschönheit, sondern auch eine gewisse Kühle bei, die da und dort als Unterkühlung empfunden wurde.

Auch das zweite Konzert des London Symphony Orchestra unter Pierre Boulez präsentierte Wiener-Schule-Werke in höchster Präzision. Anton von Weberns „Fünf Sätze“ (op. 5), für Streichorchester, und die drei posthumen Orchesterstücke wurden von Boulez ökonomisch, sachlich, mit einem Minimum an Sentiment und ohne Aufwand an jeglichem Pathos geleitet. Das Orchester, das diese Werke in einmonatiger Arbeit für London einstudiert hat, weiß heute den „objektiven“ Klang der Psychostenogramme minuziös wiederzugeben, reagiert auf jeden kleinsten Fingerzeig seines Leiters. Evelyn Lear sang Schernbergs Monodram „Erwartung“ (op. 17): Ihr schöner, geschmeidiger, kultiviert geführter Sopran nimmt leider den hysterischen Ausbrüchen in dieser Partie einiges vom Flui-dum, von der übersteigerten Expression; er bändigt das ständige Wogen der kontrastierenden Nuancen ohne motivische Beziehungen, die ständige Bereitschaft zum Aufschrei. Das heißt, der aphoristischfragmentarische Charakter der Partitur wird hier mehr als notwendig stabilisiert, der vorbeieilende Augenblick erhält Gewicht. Davon abgesehen: eine brillante Aufführung, in der das Orchester vulkangleich sprühende Farben verschüttete. Zuhause fühlte sich Evelyn Lear hingegen in der Wiedergabe der „Sieben frühen Liedier“ (in der Orchesterfassung von 1928) von Alban Berg, deren poetisch ver-wobene Stimmungen und dicht gedrängte musikalische Ereignisse auf kleinstem Raum sie überzeugend, voll Leidenschaft und mit einem sinnlichen Timbre vortrug. Stürmischer Jubel des Publikums.

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