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Berio interpretiert Berio

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In Besprechungen der Werke von Martin, Dallapiccola, Maderna, Petrassi, Boulez und einiger anderer aus dem romanischen Kulturkreis konnte man immer wieder lesen, sie versuchten, die Zwölftontechnik zu „mediterranisieren“. Nun, damit hat sich der 1925 an der ligurischen Küste geborene, aus einer Organistenfamilie stammende Luciano Berio nicht lange beschäftigt. Von früher Jugend an war für ihn Musik etwas Selbstverständliches: lebendiger und variierbarer Klang. Und Musik ist etwas Gewachsenes, das von Vergangenem gespeist wird und zu neuen Formen strebt.- So bedeutet es einen besonderen Glücksfall, daß nach Absolvierung gründlicher Studien in Theorie und Praxis (Komposition und Dirigieren, aber auch Klarinette und Klavier) für ihn, den erst 30jährigen und seinen Freund Maderna von der mächtigen RAI ein Studio für elektronische Musik gegegründet wurde.

Diesem neuen Medium galt also zunächst sein Interesse, und für elektronische Apparate, zuweilen auch mit Tonbändern und normalen Musikinstrumenten kombiniert, schrieb er eine lange Reihe von Stük-ken. Sein anderes Interesse galt der menschlichen Stimme und allen ihren technischen und ausdrucksmäßigen Fähigkeiten, vor allem den Übergängen vom Sprechen zum Singen, Flüstern oder Rufen. Aber was immer er schrieb, war innerlich „gehört“, nie ausgerechnet oder nach einem System gemacht — wenn auch von hoher, ja von höchster Kompli-

ziertheit — für Ausführende und Hörer. So entstand bis zum heutigen Tag ein Opus von einem Umfang, einem Reichtum und einer Vielfalt der Gestalten, das wohl kein anderer seiner Generation aufzuweisen hat. (Eines der letzten Holland-Festivals war Berio gewidmet, und es hat sich wohl niemand dabei gelangweilt.)

Im Großen Konzerthaussaal dirigierte Berio das ORF-Orchester und präsentierte mit Werken, die zwischen 1951 bis 1974 entstanden sind, einen Querschnitt durch sein Schaffen, das im Ganzen recht eindrucksvoll war. Der 1. Teil umfaßte drei einsätzige Stücke von je 10 bis 12 Minuten Dauer. Bereits das frühe „Con-certino“ für Klarinette und Violine (Ottokar Drapal und Emst Covacic waren die Solisten), die nur von Streichern, Harfe und Celesta begleitet werden, zeigt eine unverwechselbare Handschrift.

In den das Konzert einleitenden „Eindrücken“, 1973/74 geschrieben, deren Orchester noch durch zwei Saxophone, Vibraphon und Marim-baphon bereichert ist, werden die Erinnerungen an einen Marsch mit denen an eine Melodie parallel geführt. Das erfordert eine feine Ausbalancierung des Klanges, hat keine dramatischen Höhepunkte, wirkt aber trotzdem nicht „monoton“ (statt des ursprünglich vorgesehenen pp ließ der Komponist diesen gekoppelten Monolog etwa im mezzoforte spielen). — Das 1974 geschriebene „Points on the Curve to find“ ist eigentlich ein Klavierkonzert, aber

von ganz besonderer Art. Zunächst nämlich schrieb Berio für den Pianisten Anthony di Bonaventura einen fast nur aus Trillerketten bestehenden, sehr subtilen Solopart, der sich auch akustisch in Kurvenform entwickelt, und in diesen machen dann einzelne Instrumente oder kleine Gruppen, insgesamt 22 Instrumente, ihre „Interjektionen“.

Den 2. Teil des Konzerts bildete die halbstündige „Sinfonia“ für acht Singstimmen (Mitglieder des ORF-Chores) und Orchester. 1968 geschrieben, ist sie zu einem echten Schlager der neuen Musik geworden und wurde auch schon in Wien aufgeführt. Obwohl das Werk in fünf deutlich voneinander abgesetzte Teile gegliedert ist, wird doch in allen eine raffinierte Kombination von menschlichen Stimmen in allen möglichen Varianten mit dem Klang der Orchesterinstrumente mehr kombiniert als kontrastiert, ob es sich nun um antropologische Texte von Levi-Strauss, um ein Epitaph auf Martin Luther King oder Textfragmente von Beckett, Joyce und Studenten-Parolen aus der Zeit der Maiunruhen des Jahres 1968 handelt. Dieser Textmontage entspricht auch die musikalische Struktur: In das Scherzo einer Mahlersymphonie klingen Zitate, einige Takte, manchmal nur charakteristische Wendungen aus Werken von Bach, Beethoven, Debussy, Ravel, Berg, Hindemith und einiger anderer hinein: keine Ironisierung Mahlers und seiner spezifischen Romantik, sondern eine Huldigung ganz eigener Art. — Wie überall, wo sie aufgeführt wird, hatte auch diesmal die Sinfonia den größten Erfolg ...

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