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Unheilvolle Heimkehr

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Sollte diese Geschichte einem bestimmten Mann zu Gesicht kommen, so hoffe ich, daß er weiß, was er zu tun hat ... Die Geschichte beginnt im Jahre 1945 in einem Eisenbahn-zug, der französische Kriegsgefangene aus Deutschland zurückbrachte. Sie waren erschöpft, aber glücklich, weil sie jetzt endlich ihre Familien und ihre Heimat wiedersehen sollten.

In der Erinnerung der meisten von ihnen spiegelte sich das Gesicht einer Frau. Würden sie sie genau so wiederfinden, treu wie früher? Was hatte sie während der langen Einsamkeit getan? Würde es gelingen, mit ihr noch einmal das alte Leben aufzunehmen?

In einer Ecke des Abteils saß ein großer, hagerer Mann, dessen leidenschaftliches Gesicht und blinkende Augen eher spanisch als französisch aussahen. Er hieß Renaud Leymarie und stammte aus Char-deuil in der Provinz Perigord.

Als der Bürgermeister von Char-deuil, ein väterlicher und kluger Mann, die offizielle Nachricht erhielt, daß Renaud Leymarie am 20. August heimkehre, beschloß er, Renauds Frau die freudige Nachricht selbst zu überbringen. Er fand sie im Garten bei der Arbeit. „Jedermann hier hat Sie gerne, Madame. Und ich freue mich, der erste zu sein, der Ihnen die Rückkehr Ihres Mannes ankündigt. Ich weiß, Sie werden ihm einen liebevollen Empfang bereiten wollen.“

„Sie haben recht, Herr Bürgermeister. Ich werde Renaud einen schönen Empfang bereiten. Sie sagten am zwanzigsten? Um welche Zeit, denken Sie, wird er hier sein?“

„Gegen Mittag, frühestens.“

„Sie können mir glauben, ich werde alles für ihn vorbereiten und ich danke Ihnen für den Besuch.“

Am 20. August stand Helene Leymarie schon morgens früh um sechs Uhr auf. Sie hatte überhaupt kein Auge zugetan. Am Tag vorher hatte sie das ganze Haus geputzt, den Steinfußboden geschrubbt, die Ver-täfelung auf Hochglanz poliert und die Fenstervorhänge gewaschen. Welches Kleid sollte sie anziehen? Jenes, das er früher am liebsten mochte, war ein blauweiß bedrucktes. Als sie es anprobierte, stellte sie zu ihrem Kummer fest, daß es an der Taille zu weit war. So dünn war sie durch die jahrelangen Entbehrungen geworden. Nein, sie würde ein schwarzes Kleid tragen und es mit einem bunten Kragen und einem breiten Gürtel schmücken. Dann war sie zum Friseur gegangen, um sich die Haare ondulieren zu lassen. Und in der Nacht hatte sie ein Netz getragen, damit die Frisur am anderen Morgen nicht zerzaust wäre.

Ehe sie das Frühstück bereitete, dachte sie an all die Dinge, die er gern mochte. Aber in Frankreich von 1945 war so vieles nicht zu haben. Zum Glück hatte sie frische Eier von ihren Hühnern, pflegte er doch zu sagen, daß sie besser ein Omelett machen könne als sonst jemand. Er liebte rotes Fleisch und Bratkartoffeln, aber es gab kein rotes Fleisch. Sie hatte ein Huhn, das vorgestern geschlachtet worden war. Ein Schokoladendessert? Ja, das mochte er am liebsten.

„Wenn ich um acht Uhr fortgehe, kann ich gegen neun Uhr zurück sein. Ich will alles vorbereiten, so daß ich nur noch kochen muß, wenn ich zurück bin.“

Sie war froh gestimmt und erregt. Es war ein wunderschöner Tag. Sie deckte den Tisch: „Das rot-weiß karierte Tischtuch — das hatten wir bei unserer ersten Mahlzeit in unserem eigenen Haus aufgelegt. Die rosa Teller mit den Landschaftsbildern. Eine Flasche vom besten Wein und vor allem einige Blumen. Er liebte immer Blumen auf dem Tisch unf pflegte zu sagen, daß ich sie schöner zusammenstellte als sonstwer.“

Sie machte einen Strauß aus den Farben der Trikolore: weiße Margeriten, roten Mohn und blaue Kornblumen mit ein paar Haferähren dazwischen. Ehe sie vom Haus fortging, lehnte sie sich an ihr Fahrrad und betrachtete das Zimmer durch das Fenster. Ja, so sah alles gerade richtig aus. Nach all dem Elend würde Renaud überrascht und entzückt sein, das Haus und seine Frau sowenig verändert zu finden.

Das kleine Haus der Leymaries lag abseits, am Ende der Ortschaft, so daß eine Stunde später nur eine Nachbarin beobachtete, wie der Soldat mit den brennenden Augen in den Garten schlüpfte. Er stand dort einen Augenblick, geblendet vom Sonnenlicht, berauscht von seiner

Freude und der Schönheit der Blumen, und lauschte dem Summen der Bienen. Dann rief er: „Helene!“ Erschreckt durch die Stille trat er näher. Dann sah er durch das Fenster den Tisch gedeckt für zwei, die Blumen, die Flasche Wein — und fühlte sich tödlich verletzt, er mußte sich gegen die Mauer lehnen. Mein Gott, muß er gedacht haben, sie ist nicht allein!

Als Helene kurze Zeit später zurückkam, rief die Nachbarin herüber: „Ich habe Ihren Renaud gesehen. Er rannte die Straße hinunter. Ich rief hinter ihm her, aber er wollte nicht zurückkommen.“ — „Er rannte? Wohin?“ — „Nach Thiviers.“

Sie lief zum Haus des Bürgermeisters. Aber der wußte von nichts. „Ich habe eine solche Angst, Herr Bürgermeister. Renaud, mit all seinem unerschütterlichen Auftreten, ist ein eifersüchtiger und empfindlicher Mann. Er sah, daß der Tisch für zwei gedeckt war. Er konnte nicht wissen, daß er es war, für den ich gedeckt hatte. Wir müssen ihn sofort wiederfinden — unbedingt! Er könnte vielleicht niemals zurückkommen. Und ich liebe ihn doch so sehr.“

Der Bürgermeister schickte einen Mann zum Bahnsteig von Thiviers und benachrichtigte die Polizei. Aber Renaud Leymarie war verschwunden. Helene saß den ganzen Abend am Tisch, auf dem die Blumen in der Hitze verwelkten.

Ein Tag verging, eine Woche, ein Monat. Jetzt sind viele Jahre seit jenem tragischen Tag verstrichen, und sie hat von ihrem Mann nichts gehört. Ich habe diese Geschichte in der Hoffnung geschrieben, daß er sie liest und doch noch zurückkehrt. (Übertragen von H. B. Wagenseil)

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