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Vergebliche Revolte

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Sarkasmus und Verzweiflung kennzeichnen die Lage in Rumänien ein Jahr nach dem Kronstädter Aufstand. Hiereine Reportage aus dem Land des „großen Ceausescu“.

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Sarkasmus und Verzweiflung kennzeichnen die Lage in Rumänien ein Jahr nach dem Kronstädter Aufstand. Hiereine Reportage aus dem Land des „großen Ceausescu“.

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Vor einem Jahr im rumänischen Kronstadt (Brasov): Arbeiter stürmten Parlament und Parteihaus der Stadt (FURCHE 50/ 1987). Die Menge erbeutete all das, was es seit Jahren in den Geschäften nicht mehr zu sehen gibt: Fleisch und Weine, Schokolade und Pralinen, Baumwollhemden und Kosmetika. Den 15. November 1987 haben die Rumänen nicht vergessen, alle Welt sprach damals darüber.

Und jetzt, ein Jahr danach, diskutierten die Leute in ungemütlich kalten Cafes bei Kräutertee und Zuckerrübengrütze, daß etwas geschehen müsse. Nein, nicht mit vorgehaltener Hand; man fluchte und schimpfte ganz offen. Die Angst dürfte den Kronstädtern mittlerweile vergangen sein. Man denkt schon halblaut - egal, ob die Geheimpolizei mithört oder nicht.

Und am ersten Jahrestag der Hungerrevolte wimmelte es von Leuten der Securitate. Waren sie zahlreicher auf den Straßen als die ausgehungerten Arbeiter? Waren sie es, die sich an die in einigen Großbetrieben ausgegebene Parole hielten, zum Zeichen der Unzufriedenheit spazieren zu gehen, während sich die frierenden Arbeiter in ihren kalten Wohnblöcken verkrochen?

In Nicolae Ceausescus skurrilern Land weiß man nie, woran man ist. Ein offizieller Polizeibericht spricht von 30 Festnahmen, Hunderten Verhören und Sonderschichten für mehr als 10.000 Polizisten an diesem Tag. Aber um wieviel übertreffen diese Angaben die alltägliche Repression? 23 Arbeiter seien wegen politischer Agitation allein in jenem Betrieb festgenommen worden, von dem aus im vergangenen Jahr die Hungerrevolte ihren Anfang nahm, heißt es in einem unter der Hand verbreiteten Bericht. Parolen gegen den Conducator seien in den frühen Morgenstunden des Jahrestages an das Fabriktor von

Steagul Rosu gesprüht worden, bestätigen die Arbeiter.

„Mich interessiert das alles nicht“, meint dazu Ildiko, eine Kindergärtnerin. „Wissen Sie, ich freue mich immer wieder auf das, was morgen sein könnte, und immer wieder gibt's Anlaß zur Freude.“ So floß aus dem Wasserhahn erstmals seit 14 Tagen wieder warmes Wasser. Ein Wunder für Ildiko.

Ein paar Straßenzüge vom Parteihaus entfernt arbeitet Tatjana. Kundschaft ist keine da im Lebensmittelladen. Sie nimmt sich kein Blatt vor den Mund. 400 Lei habe sie im Oktober in der Lohntüte gesehen, obwohl ihr 1.800 zustünden. Aber wegen „Untererfüllung des Plans“ kommt es zu Lohneinbußen. „Aber wie soll ich etwas verkaufen — außer Tomaten und Fleischkonserven bieten wir ja nichts an.“

„Warum gibt es bei uns keine Zigaretten mehr?“ fragt in einem Witz ein junger Mann seine Freundin. „Du weißt es nicht? Hast du nicht Ceausescus neues Dekret gelesen, daß man auf lee-

Veränderunoen haben in Rumänien heute Seltenheitswert reP Magen nicht rauchen soll?“

Leere Magen und leere Kopfe,

Hunger und Verzweiflung verbinden sich zu einem Brei aus Verzweiflung und Sarkasmus. Schieber, die sich Fleisch aus den Ausländern vorbehaltenen Hotels erschleichen, haben Hochsaison.

,,Wir sind keine Polen“

Und die Arbeiter, fühlen sie sich als politische Macht? „Nein“, sagt eine Ingenieurin vom Lastwagenkombinat Steagul Rosu, „sie haben keine Organisation. Glauben Sie mir, selbst die Geheimpolizei hat die Nase voll von diesem Regime. Selbst die würde eine Palastrevolte beginnen, wüßte sie sich nur zu organisieren. Was die Polen bereits vor 20 Jahren erkannt haben, das erkennen wir erst jetzt. Und wie die seit 1980 für die Bürgerrechte kämpfen, wird bei uns erst in weiteren 20 Jahren möglich sein. Wir sind keine Polen“ (siehe FURCHE 45/1988).

Die Ingenieurin sieht günstige Vorzeichen durch Michail Gorbatschows Reformen. Aber in Rumänien sei es praktisch verboten, die befreundete Sowjetpresse zu lesen. „Der Betriebsrat von Steagul Rosu hat kein Recht, mit sowjetischen Gewerkschaften in einen Meinungsaustausch zu treten.“

Mit Spazierengehen und Fluchen sei nichts getan. Nur durch den Mut organisierter Bürgergruppen, meint die Ingenieurin, könne sich in Rumänien etwas verändern.

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