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Verlassenschaften

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Unter wuchtigen Schlägen splittert das Bettgestell. Der Mann reißt die letzten noch im Falz steckenden Zinken mit kräftigem Ruck auseinander und schiebt die Bretter auf die Ladefläche.

Die Alte am Fenster gegenüber starrt wie eine Sphinx — nichts im ausgemergelten Greisengesicht bewegt sich als die verkniffenen Mausaugen: die Habseligkeiten der verstorbenen Nachbarin werden ausgemistet. Stück für Stück eines mehr als bescheidenen Lebens wandert durchs Haustor — Wegbegleiter, für die beim letzten Aufbruch kein Bedarf mehr war.

Der Aufbruch vor ein paar Wochen: zwei würdevoll Unbeteiligte trugen die Leichtmetallkiste aus dem Tor, breitbeinig, ihrer Wichtigkeit voll bewußt und des Interesses der Gaffer sicher, blickten sie hochmütig ins Leere.

Drei Tage danach, beim Trauerkondukt: ein Häuflein verhutzelter alter Männer und Weiblein aus der Gasse, im schwarzen Sonntagsstaat aus besseren Tagen, mit wissenden Gesichtern zur immer wieder geübten Begräbniskonversation: öliges Mitleid über kaum getarntem Triumph: Wir sind zur Stelle!

Ein Herr, Managertyp, in den besten Jahren, mit wertbehange-ner Frau, entsteigt der Lederpolsterung seiner Limousine: der Erfolgreiche spielt zum letzten Mal die Rolle des Sohnes. Allzuoft hatte er sie in den vergangenen Jahren ohnehin nicht strapaziert. Muttertag, Christtag und Mamas Geburtstag waren Pflichtbesuche, die er ebenso kühl und fremd, wie eine notwendige, für ihn unergiebige Geschäftsbesprechung absolvierte.

Im engen Zinshausmief seiner Kindheit meinte er, seine Identität zu verlieren, nicht mehr atmen zu können. Es war wie eine schäbige Haut, der er glücklicherweise entwachsen war. Daß die Mutter von einem dieser Besuchstermine zum nächsten von den Stunden mit ihm zehrte, bemühte er sich, nicht wahrzunehmen.

Was hatte man sich noch zu erzählen gehabt, zwei Generationen — Welten voneinander entfernt. Sie, in stummer Einfältigkeit, unfähig, grenzenloses Velassensein und Sehnsucht nach Liebe in

Worte zu fassen; sein Gewissen durch ihr Schweigen in bequeme Gefälligkeit gelullt: hat sie nicht alles, was sie braucht?

Manchmal, im Morgengrauen, so zwischen Wachen und Traum, überfällt ihn der Gedanke an sie. Das Herz von grausamem Griff zusammengeschnürt, packt ihn die Urangst des Lebens, verlassen zu müssen und verlassen zu werden.

Doch schon beim letzten langen Weg durch die Zypressenstraße überantwortet er sein wachsendes Unbehagen den Taten des Vergessens: Man muß die Sache schnell erledigen, die Verlassenschaft räumen lassen.

Also räumen sie.

Die Alte am Fenster zieht wie im Spott die zahnlosen Kiefer auseinander, als jeder der Männer einen Packen fleckiger Matratzen auf den Wagen wirft. Seit bald zwei Jahrzehnten waren drei von den Roßhaarenen überflüssig gewesen. Schlich sich früh weg von Stammtisch und Küche/Kabinett, der Herr Nachbar. Hat aber nicht besonders gefehlt.

Nach den üblichen, ein paar Gefühlsnummern zu großen Trauerwochen zerrann die Zeit ohne ihn in wertlosem Geschwätz, wie zuvor die gemeinsamen Jahre mit sinnlosem Gezänk. Worte, die aufschrien und trafen, blieben wie zuwachsende Krater auf den Strecken der Erinnerung.

Strecken, die ob der Unfähigkeit, miteinander zu reden, immer nebeneinander liefen, Parallelen, die sich vielleicht in der Ewigkeit treffen.

Die ersten Schneesterne fallen, als die beiden Arbeiter den Rest vom Hausrat auf den Laster schlichten: ein ausgeschlagenes _ Lavoir, zwei Ofenrohre, einen kitschigen Druck von Jesus am 01-berg.

Die Alte von gegenüber schließt fröstelnd das Fenster.

Am Gehsteig bleiben ein paar Späne und ein zertretenes Glasherz. Der Ruß verbindet sich mit den Flocken zu schmutzigem Matsch. Aus dem dunklen Tor watschelt die Hausmeisterin und fegt alles in den Rinnstein.

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