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Vier Jahre alt

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Meine auf den Namen Zsöfia getaufte, aber Zsozsö genannte vierjährige Tochter will von mir wissen, was aus mir werden soll, wenn ich einmal groß bin. Das stimmt mich nachdenklich, denn, tatsächlich, wie WIRD es wohl sein... Etwas hinterlistig antworte ich, daß, wenn ich einmal groß bin und Glück habe und mich sehr zusammenreiße, daß ich dann eine Zsozsö sein werde.

Sie beginnt zu kichern. Laß das Kichern, meine Tochter, auch für

dich gilt es: So du Glück hast, wird auch aus dir eine Zsozsö (und ich bitte sie, aus dem Zimmer zu gehen, denn ich habe zu tun).

Ist es wirklich so? Oder ist dies lediglich der Versuch eines Vaters, sein Kind zu beschwichtigen — indem er sich, wie er's gewohnt ist, in den Vordergrund spielt? (Welche Schonung!) Was ist es eigentlich, das wir unseren Kindern neiden? Die Güte? Kaum. Kinder können überaus grausam seih, richtig schlimm. Die Unschuld? In dieser Angelegenheit — ich bitte um Verzeihung für die saloppe Formulierung — sind die Zuständigen etwas höher zu suchen. Das Fehlen von Leiden? Das klingt schon etwas besser, doch müßte

man dazu die Kinder selbst befragen, und ich fürchte, auch sie sind reif für das Leiden, und wir besitzen diesbezüglich keine Erwachsenen-Privilegien.

Mir mißfällt aber auch, wie wir mit Begriffen wie „kindliches Staunen“, „kindliches Verspieltsein“ oder „kindliche Unschuld“ so schnell bei der Hand sind. Ich glaube es ist nicht so, nicht einfach so, daß wir in der Kindheit einen Gipfel erreichen, von dem wir, der eine schneller, der andere langsamer, verkommend in die Tiefe sausen.

Denn wir verkommen, und zugleich wachsen wir weiter. Es gibt Dinge, die ich jetzt mit meinen 36 Jahren weiß und die ich im letzten Jahr noch nicht gewußt habe, und es gibt Dinge, die ich mit 20 Jahren gewußt habe und jetzt nicht mehr weiß, oder im besten Fall, aus Berufspflicht, mich daran erinnere. - Und überhaupt ist das Kind ein noch nicht fertiges, noch unvollendetes Wesen, und „Unvernunft haftet seinem jungen Herzen an“, „Laune ist sein Gesetz“, und

„mangels einer festen Erziehung wird es getrieben von jeder irreführenden menschlichen Lehre und jeder täuschenden Hinterlist“.

Und doch: Kind zu sein ist ein privilegierter Augenblick. Nach meinen Erfahrungen als Vater ist unter dem Begriff Kind ein Wesen mit vier Jahren oder so zu verstehen, das das Kindliche besitzt. Vor ihm liegt das mehr oder weniger Unmeßbare, ab diesem Augenblick entwickelt sich der eine so, der andere so. Einem solchen Vierjährigen scheint jedoch ein von der Person unabhängiges Wissen, sozusagen eine Genialität, innezuwohnen. Etwas Geniales, das heißt Heiles. Und Unpersönliches, denn es ist nicht darum heil, weil es gescheit, talentiert, gut oder sonst etwas ist, sondern darum, weil der Mensch so ist. Jeder Mensch. Und wir sehen einen heilen Punkt in der Schöpfung (wie er etwas eingeschüchtert aus dem Zimmer eilt). Auch später und zu anderen Zeiten gibt es solche Punkte, doch diese sind zumeist

das Ergebnis von harter Arbeit, von Veranlagung, oder ein Geschenk.

Was mich anlangt: Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, fühlte wie ein Kind. Als ich dann das Mannesalter erreicht hatte, tat ich ab, was kindlich war. Denn jetzt sehen wir wieMn einem trüben Spiegel ein unklares Bild.

Doch das vierjährige geniale Kind entnimmt der Bibel einen anderen Satz, einen Satz, den wir bestrebt sind, unter Gewissensbissen zu vergessen, mit dem Schutt unseres gesellschaftlichen und persönlichen Seins, mit dem Osteuropäern eigenen melancholischen und farbenfrohen Lamentieren eines Erwachsenen aus Europa zuzuschütten. Der Satz stammt aus dem Buch der Schöpfung. Daß Gott sah, daß alles sehr gut war, was er erschaffen hatte. Also: gut.

Es ist daher kein Wunder, daß wir so danach fiebern, die in uns existente (entstehende und absterbende) Zsozsö zu entdecken, oder im Gegenteil, zu verneinen, von uns fernzuhalten; das Heile und die Freiheit.

Deutsch von Martha Szepfalusi-Wanner

Die Betrachtung des bekannten ungarischen Autors ist in der Dezember-Nummer der Budapester Zeitschrift „Vigilia“ erschienen.

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