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Digital In Arbeit

Vor dem Knödeltribunal

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Am Vormittag war die Welt noch in Ordnung. Meine Chefin teilte mir mit, daß man meine Arbeit nur in einer maßlosen Überbewertung „minder“ nennen könne. Meine Mutter zeigte überhaupt kein Verständnis dafür, warum ich ihre (wirklich hervorragende) ungarische Küche nicht als Inbegriff der Diät-Ernährung zu akzeptieren bereit bin.

Und voll Freude erfuhr ich von meiner Frau, daß ich am Wochenende nicht in mein Stammcafe gehen muß, sondern vier bis fünf Stunden wandern darf.

Wie gesagt: Die Welt war während des ganzen Vormittags (noch) in Ordnung.

Dann kam, was eigentlich jeden Tag der Fall ist, Mittag. Und da-

mit mein pflichtgemäßer Hunger. (Gegenwärtige Bauarbeiter und ehemalige Ungarn essen nämlich nicht dann, wenn sie Hunger haben, sondern wenn „es Zeit ist“; und mittags sollte man eben „mit- tagessen“; darum heißt es auch so.)

„Hunger hin, Küche her!“ — flüsterte mir mein Magen zu, und ich ging pflichthungriggemäßen Schrittes Richtung Löwelstraße 16 (Wien-City), wo sich die Landes- Landwirtschaftskammer für Niederösterreich dicht an die SPÖ- Zentrale schmiegt.

Seit Jahr und Tag (nie außerhalb des Jahres oder in der Nacht) darf ich dort für 35 Schilling die kalorienreichen Vorzüge der ungarisch-tschechisch-wienerischen Küche genießen. Wenig Geld für viel Essen, im ersten Bezirk auch am letzten Monatstag.

Ein Arbeitskollege meiner Frau und ein Essenskollege von mir klärte mich eines Tages auf: „Stammgäste“ zahlen nur 30 Schilling.

Ich freute mich wie ein Schneekönig (Kunststück: heuer) und wandte mich schnurgerade an die Essensportioniererin (vielleicht trägt sie einen anderen Titel) in der Küche. Sie hörte mir geduldig zu und schickte mich zu der (administrativen) Küchenchefin. Auch sie hörte mir, wenn es möglich ist, noch höflicher zu und sprach: „Ich muß leider noch mit der Leiterin der Küche sprechen.“

Ich freute mich. Zu früh. Sie fuhr nämlich fort: „Und sie muß dann mit ihrem Chef sprechen.“ Ich freute mich immer noch, wenn

Nach der „Woche des Waldes" …

auch etwas gedrückt. Trotzdem versprach sie, mich zu verständigen.

Daraufhin verging einige Zeit. Die kleine Koalition brach auseinander, der Kanzler steuerte vorerst auf Neuwahlen und nachher auf die große Koalition zu. Sehr sympathisch. Ich zahlte immer noch meine 35 Schilling mittäglich in der Landes-Landwirt- schaftskammer für Niederösterreich.

Da ich gerne meine diesbezügliche Essensangelegenheit noch in der laufenden Legislaturperiode erledigt haben wollte, wandte ich mich erneut an die (administrative) Chefin der Küche. Sie sah mich vorwurfsvoll an, ging auf meine Frage („Haben Sie mit Ihrer Chefin und diese mit ihrem Chef gesprochen?“) erst gar nicht ein, sondern teilte nur bestimmt mit: „Die Sache wird vom Küchenausschuß behandelt!“

Bum. Das war alles.

Nein, das war es noch nicht. Zumindest nicht ganz. Jetzt sehe ich mich vor dem allmächtigen Küchenausschuß stehen wie einst hungrige Aristokraten vor dem Revolutionsausschuß zu Zeiten des Pariser Köpferollens.

Ich stehe also vor den Schranken und Schreibtischen des mächtigen Küchenausschusses der Landes-Landwirtschaftskammer für Niederösterreich und muß mich bohrenden Fragen und vielleicht auch peinlichen Prüfungen aussetzen.

Was wird man mich da fragen? Ob ich Schweins- von Rindsgulasch unterscheiden kann? Ob ich vor Ostern lieber Wiener- oder Pariserschnitzel esse? Und muß

(Liebermann, Süddt. Zeitung)

ich mich vielleicht in einem Wettessen mit Waldviertler Knödel- Königen messen?

Ich will vor dem Küchenausschuß, wo ich sicherlich mit zitternden Magenwänden stehen werde, nicht unvorbereitet erscheinen. Ich arbeite und feile schon an meiner großen Verteidigungsrede vor diesem Küchen- und Knödeltribunal. Ich fürchte nur, daß man mich anstatt mit Salutschüssen empfangen, mit Salatschüsseln (werfend) verabschieden wird.

Und deshalb werde ich weder eine Verteidigungs- noch irgendeine andere Rede halten, sondern nur mit wachsendem Hunger und schwindender Liebe an die Agrarbürokratie denken — und weiterhin 35 Schilling für mein Mittagessen zahlen.

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