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Weltgeschichte(n)

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„Beschuldigter, was haben Sie zu Ihrer Rechtfertigung zu sagen?“

„Ach“, stöhnte der Mann in der Anklagebank, der seine Augen im grellen Licht der auf dem Tisch des Richters stehenden, direkt auf sein Gesicht gerichteten Lampe geblendet schließen mußte, „ich habe doch wirklich nichts getan! Ich bin ein verantwortungsvoller Mandatar und Politiker!“

Seltsamerweise trug der Vorsitzende des Gerichts einen Schlosseranzug. „Brav und verantwortungsvoll nennen Sie das“, sagte der Vorsitzende, „braucht der Mensch wirklich mehr als einen Posten, der seinen Mann ernährt?“

„Was wirft man mir eigentlich vor?“ stöhnte der Angeklagte.

„Hier stellen nicht Sie die Fragen, sondern wir“, sagte einer der Beisitzer, der ein Maurergewand trug, „und ich, ein dreimal wegen Pfuschens vorbestrafter Maurer, frage Sie, wo waren Sie am vorletzten Freitag zwischen 16 und 16.10 Uhr?“

„Das kann ich Ihnen aus dem Stegreif doch nicht sagen“, antwortete der Beschuldigte, „wissen Sie denn noch so genau, wo Sie am vergangenen Freitag um diese Zeit waren?“

,£>a ich nach drei Verurteilungen wegen Pfuschens kein Risiko mehr eingehe, war ich auf dem Heimweg“, sagte der Maurer.

„Da ich nach der vierten Verurteilung wegen Pfuschens kein Risiko

mehr eingehe, war ich auf dem Heimweg“, sagte der Vorsitzende des Gerichtes im Schlossergewand.

„Wir werden Ihrem Gedächtnis nachhelfen“, sagte ein anderer Beisitzer, offenbar auch ein Maurer, „ich sage nur — Kommerzplatz, zweiter Stock.“

„Ach, das meinen Sie“, sagte gequält der Politiker, „ich habe meinen Freund, den dortigen Generaldirektor, besucht.“

„Zufällig hat dort eine Aufsichtsratssitzung stattgefunden“, sagte der Vorsitzende, „an der Sie teilgenommen haben. Welche Ausbildung haben Sie vorzuweisen, die Sie für eine solche Tätigkeit qualifiziert?“

„Ich bin Politiker, das ist kein an eine Ausbildung gebundener Beruf“, sagte der Politiker.

„Sind Sie nicht zufällig auch bezahlter Direktor der Gesellschaft für, Sie wissen schon, und bezahlter Geschäftsführer des Institutes zur, Sie wissen schon?“

„Hobbies!“ rief der Politiker, „alles nur Hobbies, meine Herren, trauen Sie mir wirklich solche Untaten zu? Glauben Sie wirklich, ich wäre fähig, gegen den heiligsten Grundsatz unserer Demokratie, den Gleichheitsgrundsatz, zu verstoßen? Halten Sie mich wirklich für einen — Pfuscher?“

„anderen Leuten die Arbeit wegnehmen/“ sagte der Vorsitzende.

.JFünfzehn Personen haben sich um die Geschäftsführung des Institutes beworben. Leute, die es nötig gehabt hätten. Er hat den Posten bekommen“, sagte der erste Beisitzer.

„Fünf Aufsichtsratssitze“, sagte der zweite Beisitzer, „und unsereiner wird verurteilt, weit er am Sonntag an einem fremden Häusel mitmauert und dabei ein paar Hunderter verdient. Was machen wir mit ihm?“

„Was machen wir mit ihm?“ sagte der erste Beisitzer.

„Ich verurteile Sie“, sagte der Richter und setzte sein Handwerkerkappel auf, „wegen Pfuschens im Wiederholungsfall zu zehn Jahren ausschließlicher Tätigkeit auf dem schlechtbezahlten Posten eines Mitgliedes dieses Gerichts. Sie dürfen sich aussuchen, welchen Sie haben

wollen. Meinen, den des ersten oder den des zweiten Beisitzers. Gegen dieses Urteil ist keine Berufung möglich.“

Das Licht der auf dem Richtertisch stehenden Lampe wurde immer greller, und die Augen des Verurteilten schmerzten. Dann erwachte der beim rastlosen Dienst am Volke übermüdete Politiker, der bei der nächtlichen Arbeit an seinem Schreibtisch eingeschlafen war. Die Lampe hatte sich verschoben und

sehien direkt in seine Augen. Sein Blick fiel auf den Kalender mit den Terminen für den folgenden Tag.

Um 10 hatte er die erste, um 11 die zweite Auf Sichtsratssitzung, um 12 wollte er in einem von ihm geleiteten Institut, um 13 Uhr für mehrere Minuten auf seinem offziellen Arbeitsplatz eintreffen, aber bereits um H Uhr stand eine Klubsitzung und um 15 Uhr ein Interview im Fernsehen auf dem Kalender.

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