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Wenn es am schönsten ist

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Es gibt ein Gedicht von dem Kärntner Lyriker Johannes Lindner. Das heißt: „Alter Fischer zieht sein Sterbehemd an." Er zieht es an, um zu sterben. Er weiß, wann es an der Zeit ist. Er sieht im Sterben einen Strom, „wo die Seelen wie Fischschwärme ziehn."

„Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören", sagte mein Vater, wenn ich von einem Fest nicht nach Hause gehen, keinen Tanz auslassen, immer die letzte sein wollte.

„Wann ist es am schönsten?"

„Das weiß man ganz genau", sagte er ruhig.

Ich weiß es nicht.

Und ganz genau schon gar nicht.

Und er kann es auch nicht gewußt haben, als er von jenem Unglück überrascht wurde, das meine Fragen für immer abschnitt.

War es am schönsten, als der alte Fischer sein Sterbehemd anzog und sich niederlegte, um auf den Tod zu warten?

Wie war das, als seine Seele mit den Fischschwärmen der anderen davonzog?

Wie werden wir ... Und plötzlich fällt mir ein, daß man auf nichts vorbereitet ist. Man hat vielleicht ein Testament gemacht.

Das ist alles. Ein Stück Papier.

Man hat nicht einmal ein Sterbehemd im Schrank. Kleider und Anzüge für alle Gelegenheiten, für den Alltag, für kleine und große Feste. Keines für den Tod.

Und ich beschließe, weiße Leinwand zu kaufen. Für Bettwäsche, werde ich sagen, und die Verkäuferin wird sich wundern, weil man das fertig kauft heutzutage, fertig und farbig, gestreift, kariert, geblümt.

Schwieriger wird es bei der Schneiderin werden. Da ist die Jahreszeit. Ich kann nur im Januar oder Februar gehen, während der Fasnacht.

Ich werde die drei Treppen hinaufsteigen. Vielleicht wird mir der „Totentanz" einfallen. Kein gemalter, wo alle nach der Pfeife des Todes tanzen, sondern ein wirklicher, wie ihn adelige Gäste im Jahre 1410 bei einem Fest auf Schloß Tangermünde tanzten. (Man kann das bei Theodor Fontane in „Quitzöwel" nachlesen.) Nach fünf verschiedenen Tänzen, dem Zwölf-Monats-Tanz, dem Polnischen, dem Kapriolen-, dem Dreh- und dem Taubentanz, bildete der sechste, der Totentanz, den Schluß.

Ei' soll sehr beliebt gewesen sein.

Das Los entschied, wer den Toten tanzen mußte. Wenn er eine Weile getanzt hatte, fiel er wie tot um. In diesem Augenblick verstummte die Musik und man stimmte einen Trauergesang an, wobei die Damen sich über den Toten beugten und ihn küßten. Wenn die letzte ihn geküßt hatte, stand er wieder auf und man tanzte weiter.

Wie der „Tote" wohl getanzt hat, bevor er umfiel? Im vollen Bewußtsein seines eigenen — irgendwann — bevorstehenden Todes? Vielleicht auch stellvertretend für alle anderen, die das Los diesmal nicht getroffen hatte und die doch — irgendwann — sterben mußten?

„Für ein Kostümfest", werde ich sagen. Und die Schneiderin: „Als was wollen Sie denn gehen?" Und ich, lachend: „Als Gespenst oder als Engel. Das wissen wir noch nicht genau."

„Praktisch ist das nicht. Warum gehen Sie nicht als Teufel? In so einem Kostüm kann man mindestens zwei Maskenbälle besuchen. Schwarz schmutzt nicht. Als Gespenst oder als Engel — Sie werden sich wundern. Das geht nur einmal." Ich nicke.

Sie, schulterzuckend:

„Wie Sie wollen. Sehr sorgfältig muß ich das nicht nähen — oder?"

Ich: „Warum nicht?"

Sie: „Das ist doch kein ernstzunehmendes Kleidungsstück."

Ich: „Doch, ich möchte, daß Sie das sehr sorgfältig nähen — als wäre es für die Ewigkeit."

„Mit Abnähern und Biesen?"

„Nein, nein, ganz einfach. Am Hals geschlossen, mit langen Ärmeln und bodenlang, bis auf die Knöchel herab, eher noch etwas länger, und weit, vor allem weit. So weit es geht."

Sie: „Warum denn so weit?"

Ich: „Damit es keine Schwierigkeiten mit dem Anziehen gibt."

Sie: „Ach, das geht doch ganz schnell, über den Kopf und fertig."

Ich, hastig: „Aber beim Tanzen, verstehen Sie? Beim Tanzen kann es nicht weit genug sein."

Sie, überzeugt: „Das ist richtig, ich werde aus dem Stoff herausholen, was geht."

Sich Notizen machend: „Auf welchen Ball werden Sie denn gehen?"

„Das wissen wir noch nicht genau."

Sie: „Ich gehe immer auf den letzten. Der letzte ist immer der schönste. Und die Kapellen geben sich noch einmal richtig Mühe, wenn sie zum letzten Mal aufspielen."

Während sie ihre Notizen macht, denke ich, wie gut es wäre, wenn man seiner Schneiderin sagen könnte: „Zwei Sterbehemden."

Und wenn sie von der Maschine aufsehen würde, lächelnd, und sagen: „Gern. Ich hab ein bissei viel Arbeit im Augenblick; Aber bis in zwei Wochen wird's gehen. Reicht das?"

Und wenn man, genau so lächelnd, antworten könnte: „Ja, danke, ich denke, das reicht."

Bis dahin fehlt noch viel.

Wenn uns das Sterben leichter fiele, fiele uns auch das Leben leichter.

So helfen wir uns mit Tricks über die Runden.

Wenn ich die fertigen Hemden bei meiner Schneiderin abhole und bezahlt habe, wird sie sagen: „Viel Spaß."

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