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Zu viel Lehrstoff - zu wenig Menschlichkeit

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Der Lehrer ist an allem schuld. Ist es so? Die Verantwortung für die Schule tragen jedenfalls vor allem nicht die Schüler, sondern die Pädagogen. Sind sie aber in der Lage, ihre Verantwortung tatsächlich wahrzunehmen?

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Der Lehrer ist an allem schuld. Ist es so? Die Verantwortung für die Schule tragen jedenfalls vor allem nicht die Schüler, sondern die Pädagogen. Sind sie aber in der Lage, ihre Verantwortung tatsächlich wahrzunehmen?

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Nachrichten über Selbstmorde von Schülern aus Verzweiflung über ihren Mißerfolg in der Schule gingen letzte Zeit, alarmierend, immer wieder durch die Presse; die eindrucksvolle Verfilmung des Romans „Der Schüler Gerber“ von Friedrich Torberg gab der aufkeimenden Diskussion einen Brennpunkt; eine Tageszeitung richtete in Wort, Bild und Plakat den zum Strahlenbündel konzentrierten Unmut auf die Lehrer. Da stehen sie nun, die Pädagogen, als Sündenböcke für verfehlte Planungen, hinter denen falsche (oder fragwürdige) Zielvorstellungen stecken - als Sündenböcke oder als Menschen, die sich oft wirklich hartherzig verhalten? Und die durch ihre Härte tatsächlich Unglück verschulden?

Schulen bilden ihrem Wesen nach den Nährboden für Konflikte. Die Front verläuft fürwahr nicht nur zwischen spielfreudigen und also arbeitsunwilligen Schülern und im Interesse der Erfüllung ihrer Aufgabe zur Strenge gezwungenen Lehrern. Auch zwischen dem einen Lehrer und dem anderen, dem einen Schüler und dem anderen herrscht mitunter eine gegnerische Spannung, kühle Gleichgültigkeit oder Antipathie. So viele einzelne in einer ursprünglich nicht organisch gewachsenen Gemeinschaft müssen zwangsläufig oft in Konfliktsituationen geraten.

In den Schulen früherer Zeiten wurden solche Konflikte durch Autorität unterdrückt und auch unterbunden, durch hohle Phrasen, denen man selbst halbherzig Glauben schenkte, übertüncht, mit Hilfe der Regeln des guten Benehmens ins Unterbewußtsein und damit in die tieferen Schichten einer lebenslangen Unzufriedenheit verdrängt - oder im Geist der Liebe und der Achtung gelöst. In diesem Idealfall kam es zu jenen seltenen, aber unvergeßlichen Harmonien zwischen den vor einigen Augenblicken noch so verbitterten Kontrahenten.

Diesen Idealfall gibt es heute noch, und es wird ihn wohl immer geben. Aber die Schule ist offener geworden. Also treten auch die Konflikte offen zutage. Zudem hat sich der Freiheitsraum von Schülern wie von Lehrern vergrößert - bei gleichzeitigem Anschwellen des Lehrstoffs.

Was diesen Lehrstoff betrifft: Seine unmenschlichen Dimensionen entspringen der Vorstellung, die Schule müsse vor allem nicht zum Ethos erziehen, die Grundzüge eines humanistischen Weltbildes vermitteln, die Möglichkeiten des selbständigen Lernens lehren, sondern vor allem als nützlich erachtete Kenntnisse vermitteln, und zwar aus zwei Gründen: über Ethos herrschen in einer pluralistischen Gesellschaft unterschiedliche Vorstellungen, und Humanismus ist nicht ohne weiteres meßbar. „Meßbarkeit“ lautet aber die Parole dieser Gesellschaft.

An den Schülerselbstmorden ist vor allem die Unmenschlichkeit dieser Philosophie schuld. Ihre Vertreter sind, obwohl sie das Beste wollen, Schreibtischmörder.

Und was die Freiheit betrifft: viele Schüler und auch Lehrer neigen (noch?) dazu, sie zu mißbrauchen oder falsch zu interpretieren. Die Schüler, indem sie jede Disziplin als Freiheitsentzug empfinden und nicht begreifen - nicht begreifen können, da man ihnen den entsprechenden humanistischen Ethos nicht oder nicht genug nachdrücklich und behutsam vermittelt -, daß ihre Freiheit auch in der Freiheit zur selbständigen Arbeit und Selbstverwirklichung besteht.

Viele Lehrer neigen indessen dazu, ihre Freiheit ähnlich zu mißdeuten: Sie glauben, frei zu sein von der ethischen Verpflichtung, ihre Schüler zu lieben oder sie wenigstens liebevoll zu betreuen; sie glauben, freie Lohnempfänger, Arbeitnehmer, einfach Fachleute der Wissensvermittlung zu sein. Sie interessieren sich für die Seele ihres Schülers ebensowenig wie der Fernsehtechniker für die Seele des Fernsehpublikums.

Es gibt freilich in großer Zahl gute Lehrer, beseelt von der Opferbereitschaft des wirklichen Pädagogen. Aber der unsinnig aufgeblähte Lehrstoff und die Atmosphäre der Gesellschaft sind nicht dazu angetan, sie zu ermutigen.

Die vom Ethos des Berufes (der Berufung?) unberührt gebliebenen Techniker der Wissensvermittlung werden freilich nicht zögern, ihre Freiheit zu mißbrauchen, indem sie die Mechanismen ihrer vermeintlichen Pflichtausübung ohne Mitgefühl - denn was ist schon Gefühl?! - in Bewegung setzen.

Welchen Quellen aber entspringt diese falsche Selbsteinschätzung vieler Lehrer? Könnte es sein, daß jene höheren Schulen, die die Lehrer ausbilden und erziehen, an denselben Übeln leiden wie die übrigen Schulen: zu viel Lehrstoff, zu wenig Ethik?

Unsere Schulen wären menschlicher und - seltsamerweise - auch praxisbezogener, wenn man bereit wäre, den Kreis der in schulischen Angelegenheiten bestimmenden Kräfte zu erweitern. Zu denen der Sozialpartner und der Erziehungswissenschaft wären noch hinzuzuziehen: Sokrates, Comenius und Pestalozzi.

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