„Überforderung darf es erst nach der Schulpflicht geben“

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Die Bildungswissenschaftlerin und Schulleiterin Christa Koenne argumentiert für eine Pflichtschule ohne Nachhilfe. Es brauche daher Ganztagsschulen.

Für Christa Koenne ist klar: Nachhilfe sei ein Zeichen dafür, dass unser derzeitiges Schulsystem massive Probleme aufweist. Aufgaben der Schule müssten in der Schule erledigt und nicht in Familien verlagert werden, sagt die langjährige Schulleiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Didaktik der Chemie an der Uni Wien. Tatsächlich sei es oft umgekehrt. „Was heute in der Schule passiert, trägt viele Konflikte in die Familien hinein. Über nichts wird so viel gestritten wie über die Schule.“ Dadurch gehe den Familien aber Zeit für gemeinsame Unternehmungen verloren. Koenne verweist auf skandinavische Länder, wo viel weniger „Materialtransport“ zwischen Schule und Familien stattfinden würde. Das heißt: Jedes Schulkind hat in der Schule seinen Spind, in dem Schulmaterialien aufbewahrt werden. „Das ist ein äußerer Indikator dafür, dass die Schule ihre Aufgaben erledigt und die Familien damit nicht belastet.“ Freilich, gesteht Koenne zu, sei auch was Wahres an so mancher Klage der Lehrer und Lehrerinnen, die monieren, dass Eltern ihre Aufgaben auch nicht mehr ausreichend erfüllen würden, kurz: Die heutigen Kinder seien zu unerzogen. Koenne meint, Eltern seien heute zu einem Gutteil überfordert von Beruf und Familie. „Daher bin ich für Ganztagsschulen, um Kinder und Jugendliche professioneller in der Erziehung und durch verschiedene Vorbilder zu begleiten.“ Viele Kinder hätten in den Kleinstfamilien wenig Chancen für unterschiedliche Vorbilder.

Kein Scheitern in Pflichtschule

Christa Koenne hat, wie sie selbst sagt, in einem Punkt eine „rigide Vorstellung“: „Überforderung in der Schule darf es erst nach Ende der Schulpflicht geben. Nachher – in der AHS-Oberstufe oder in Berufsbildenden Höheren Schulen – muss es die Möglichkeit zum Scheitern geben oder am falschen Weg zu sein. Aber innerhalb der Schulpflicht darf es kein Scheitern geben.“ Aus diesem Grund spricht sich Koenne klar für eine gemeinsame Schule der Zehn- bis 14-Jährigen aus: „Ich bin dagegen, dass man Schüler in der Pflichtschule loswerden kann, dass man sie in eine andere Schule schicken kann. Dass man sich in der AHS nicht in gleicher Weise wie in der Hauptschule verantwortlich für den Lernerfolg eines Schülers oder einer Schülerin fühlt, sondern sagen kann: Du bist nicht in der richtigen Schule, schau, dass du woanders zu deinem Lernerfolg kommst.“

Anders sei es aber nach der Schulpflicht: „Nachher müssen wir schrittweise die Verantwortung an den Lernenden selber übertragen. Wir infantilisieren junge Erwachsene, wenn wir ihnen nach der Schulpflicht nicht die Verantwortung für ihren Lernerfolg geben.“ Es sei daher ihr Ideal, dass innerhalb der Schulpflicht keine Nachhilfe notwendig ist, außerhalb nur dann, um momentane Defizite zu überbrücken, aber nicht als Dauereinrichtung.

Fehler im System

Koenne analysiert auch, warum Nachhilfe meistens doch wirkt: Bei der Nachhilfe findet individualisierter Unterricht statt, also Lernen in Kleingruppen oder im Einzelunterricht. „Zudem ist in diesem Rahmen Lernen ohne Angst möglich“, sagt Christa Koenne. Auch die direkte Bezahlung trägt laut Bildungswissenschaftlerin zum Erfolg bei.

Das System Schule begünstige Nachhilfe, analysiert Koenne weiter: Es gebe zunächst schwer bis nicht erfüllbare Ansprüche der Schule. Daher würden alle im System Beteiligte schwindeln müssen, damit überhaupt jemand durchkommt. Es werde aber nicht für Schüler geschwindelt, die unangepasst und aufmüpfig sind. „Auf diese Schüler fällt dann die schlechte Note herein. Was wieder ein systemischer Grund dafür ist, Nachhilfe in Anspruch zu nehmen.“

Zudem hätten Noten weitreichende Konsequenzen wie Selektion und Repetieren einer Klasse. Das Wiederholen eines Schuljahres ist nach Koennes Erfahrung nur für ein Drittel der Betroffenen sinnvoll. „Noten wären wichtig als Feedback für den Lernenden. Aber weil sie bei uns diese hohe Bedeutung haben, intervenieren die Eltern, denn sie wissen, dass Bildungsabschlüsse Lebenschancen sind.“

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