Wie Jesus als Jude nach Wien kam

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Therese Lindenberg und ihr jüdischer Mann überlebten die NS-Jahre in Wien. Im März 1945 schrieb sie die Gedicht-Meditation "Jesus in Wien": Ein prophetisches KarfreitagsZeugnis aus der Zeit der Schoa. von otto friedrich

Nein, um hohe Literatur handelt es sich nicht. Auch manches von der Frömmigkeit, die sich da widerspiegelt, mag für heutige Augen fremd und etwas süßlich wirken. Dennoch ist die in Gedichtform gegossene Meditation der Therese Lindenberg, geschrieben im gerade noch nicht befreiten Wien 1945, ein berührendes Zeugnis der Zeitgenossenschaft. Und ein prophetisches Zeugnis einer Nicht-Theologin, in der verblüffend klar jene Grundgedanken zu finden sind, die große theologische Denker später als "Theologie nach Auschwitz" formuliert haben.

Therese Lindenberg, Jahrgang 1894, ausgebildete Sängerin, musste - wiewohl gläubige Katholikin - 1915 aus der Kirche austreten, weil sie einen jüdischen Bankbeamten heiratete. Nach Hitlers Einmarsch 1938 verlor Thereses Mann, inzwischen Prokurist bei der Creditanstalt, seinen Posten. Trotzdem er Jude war, überlebte er - halb im Untergrund - die Kriegsjahre in Wien. Therese Lindenberg trat 1938 wieder in die Kirche ein und war dann sogar Organistin in St. Leopold im 2. Wiener Gemeindebezirk; sie konnte sich und ihren Mann finanziell über Wasser halten.

Christen & Juden zusammen

Von ihrem 6. bis zum Tod im 86. Lebensjahr hat Therese Lindenberg Tagebuch geführt, erzählt Ruth Steiner, die Enkelin Lindenbergs, die im philippinischen Exil ihrer Mutter geboren wurde und die Großmutter erst 1954, als Steiner erstmals nach Österreich kam, kennen lernte. Einiges von den Tagebüchern hat Steiner gelesen. Lindenbergs Herzenswunsch, so Steiner, sei das Zusammenführen von Christen und Juden gewesen. Das findet sich in ihren Tagebüchern, das hat die Großmutter ihrer Enkelin auch immer wieder erzählt. Solches Anliegen verwundert wenig, hat Therese Lindenberg die - für Juden existenzbedrohende - Spaltung in der eigenen Biografie so unmittelbar erfahren.

Das Verlangen nach Überwindung der Grenzen, die Juden und Christen trennen, findet sich auch in der Gedicht-Meditation der Therese Lindenberg vom März 1945, die die Furche erstmals veröffentlicht. Mehr noch aber berührt die Idee der Meditation: Jesus kommt - als Jude - ein zweites Mal auf die Erde und muss hier ein zweites Mal die Passion erleiden: mit den anderen Juden geht er ins Gas. Dieser Gedanke klingt heute, wo die christlichen Kirchen deutlich betonen, dass Jesus ein Jude war, wenig spektakulär.

An viele Karfreitage erinnern

Doch solch Worte zu finden, bevor es eine christliche "Theologie nach Auschwitz" gab, für die der Gedanke, dass Jesus in den Gaskammern der NS-Maschinerie ein zweites Mal gekreuzigt wurde, nicht fremd war, ist mehr als außergewöhnlich.

Die Gedicht-Meditation ist mit März 1945 datiert - als Wien, obzwar im alliierten Bombenhagel, noch zum Dritten Reich gehörte. Dass Therese Lindenberg da schon so klar von Auschwitz und den Gaskammern schrieb - das Vernichtungslager war ja erst am 27. Jänner 1945 von den sowjetischen Truppen befreit worden - macht das Zeitzeugnis noch brisanter.

Jesu Passion, von der Zeitgenossin der Passionszeit des Jahres 1945 in ihre Zeit hineingestellt, ist in diesem Sinn ein bewegender Text, der - nicht nur am diesjährigen Karfreitag - die Erinnerung an die vielen Karfreitage rund um 1945 wachhalten hilft.

Therese Lindenberg

Jesus in Wien (1938-1945)

Zu jener Zeit - wir wissen wann sie war,

- da weilt der Antichrist auf unsrer Erde -

da flüsterte erschreckt die Engelschar,

was wohl Gottvater dazu sagen werde.

Seit vielen Wochen schallte kein Gesang

wie sonst durch helle, hohe Himmelsräume;

die Heiligen und Sel'gen knieten bang

vor Gott, dass keiner nur Sein Wort versäume.

Und nun - der Herr sah über alle hin

und wandte sich an Seinen Himmelssohn:

"Du musst in eine Stadt zur Erde - Wien -,

und heute noch verlässt du deinen Thron.

Ich sandte einst dich zu den Menschen aus.

Du starbst am Kreuz für sie, ach, unter Hohn!

Zu wenig! Noch blieb die Erlösung aus ...

Nun nützet nur das Schwerste wohl, mein Sohn!"

Gott Vater hielt ein wenig inne jetzt -

die Schar um Ihn hielt fast den Atem an,

und auch ein kleiner Engel, der zuletzt

laut lachte, sah erschreckt den Höchsten an.

Und Gottes Stirne zittert, als er sprach:

"Du wirst in jener Stadt als Jude leben!

Dies ist mein Wunsch, und uns wirst du hernach

von dem, was du erlebtest, Kunde geben!"

Herrn Jesus Auge glich der Liebe Meer.

Er neigte sich vor Gott - und rief dann leise

den kleinen, muntern Engel zu sich her

und nahm ihn mit auf seine Erdenreise.

Herrn Jesus irdische Gestalt voll Würde

glich nun der eines ältern Israeliten.

Der kleine Engel - eine liebe Erde,

glaubt man - als Judenbub gar wohl gelitten ...

Nun kamen endlich sie in jene Stadt ...

Die beiden spürten heftgen Menschenhunger

nach Speise - wie ein Mensch sie eben hat:

Herr Jesus dachte an die einstgen Wunder.

Doch nein - macht eine Ladentür er auf -

"Sind Sie ein Jude?" frug man barsch. Ermattet

hauchte Jesus: "Ja." "Bedaure sehr, Verkauf

an Juden ist hier niemals nicht gestattet!"

Der kleine Engel weinte ziemlich fest:

"Herr Jesus, ach, mir kracht der Magen!

Wenn du mich hier auf Erden hungern lässt,

werd ich's sogleich dem lieben Herrgott sagen!"

Die tiefste Milde, nur Herrn Jesus eigen,

umstrahlt den Göttlichen ... Es sah der Engel

die Leute mit den Fingern auf ihn zeigen:

"Da schau dir an den frechen Judenbengel!

Ah so was! Statt sich zu verstecken,

da rennen's gar beim hellen Tag herum!

Wenn's nur schon endlich täten ganz verrecken -

damit a Ruah wär - es ist schon zu dumm!"

Gemütlich sprachen so die lieben Wiener

und gingen freundlich lächelnd wieder weiter.

"Heil Hitler!" grüßten sie, nicht: "Gschamster Diener!"

Ja, Wien, die Liederstadt, bleibt immer heiter.

Herr Jesus und der kleine Engel standen

nun vor dem Tor zu einem Speisehause.

"O", rief der Kleine, "dass wir endlich landen,

um gütlich uns zu tun an einem Schmause!"

"Der Eintritt ist den Juden streng verboten."

So war's zu lesen dort. Der Engel greinte:

"Ja, leben nur in dieser Stadt Zeloten?"

Er setzte sich auf eine Bank und weinte.

Und jetzt: Ein Polizist stelzt stramm daher:

"Gleich geht's ihr weg! Die Bänk sind nur für Arier.

Und übrigens, habn Sie an Ausweis, Herr?

I kenn kan Juden, der is a Proletarier!"

So schrie der Polizist mit Stimmgewalt.

Und Jesus sprach: "Ich bin ein Mensch, ein müder.

Mein Dokument ist meine Menschgestalt,

die Seele und mein Herz sind meine Güter."

"Sie, hörn'S net glei auf mit so gschwollnen Reden -

das is nur blöd, das nützt nix, kommen'S mit.

Wenn man die Redn anhörn müsst von so an Jeden -

des wär was, Sö, nia würd man da mehr quitt!"

Es ging gemächlich durch die Wiener Straßen.

Der kleine Engel hinkte hinterdrein.

Herr Jesus seufzte: "Gott hat mich verlassen!"

Und blutger Schweiß rann ihm ins Aug hinein.

Das nächste Polizeirevier war weit.

Dort steckte man die zwei in eine Zelle.

Der Menschen Elend machte sich dort breit.

Es fiel auf Jesus hin - wie eine Welle.

Der kleine Engel musste mit. Natürlich

ergaben sich daraus viel Schwierigkeiten -

sein blonder Lockenkopf legt' sich possierlich

auf der Verbrecher schmutzig Sitzgelegenheiten.

Man stieß ihn jäh herab und schlug in heftig,

man trat auf ihn und schrie auf Jesus ein:

"Ist der verdammte Saujud aber kräftig!

In aner Stund wird er schon anders sein!"

Herr Jesus lernte alle Folter kennen,

so wie vor mehr als neunzehnhundert Jahren -

nein, noch viel schrecklicher musst er sie nennen,

denn damals hat er sie ganz kurz erfahren.

Die zweite Passion begann in Dachau

und endete in Auschwitz. "Zäher Jud",

sagt' der Gestapo-Scherge: "Nur ganz grau

ist er geworden, sonsten geht's ihm gut.

Das is ein ganz besondrer Fall. Er tut

gar nichts und macht dadurch Revolten,

und einmal hat sogar der blöde Jud

sich eigenmächtig Gottes Sohn' gescholten!

Na wart, jetzt ist's zu End, jetzt wirst du baden,

ganz sauber wirst du werden und der Fratz,

von dem wir endlich wollen Ruhe haben,

wird mit dir sein, am einzig rechten Platz!"

Das Englein hat das Reden fast verlernt,

schaut immer sehnsuchtsvoll nach Jesus hin,

an dessen Liebe er sein Herzchen wärmt,

an dessen Demut er ein Beispiel nimmt.

So sind vergangen sieben Menschenjahre,

die auf der Erde beide hier verbrachten.

Die Worte sind zu schwach. Das einzig Wahre:

Unsäglich war die Qual, in der sie schmachten,

Sie wurden angespieen und getreten,

sie mussten nackt und nass im Froste stehn -

und keiner konnte keinen retten -

sie waren Menschen - nutzlos jedes Flehn!

Nun gehn ins Bad sie hin in müdem Trott.

Herr Jesus lächelt alle an und sagt:

"Es ist zu End ... Wir stehen heute noch vor Gott!

Wir sehn uns wieder dort - seid unverzagt!"

Die Menschen um die beiden stehen enge ...

Sie wollten niederknien - Sie können's nicht.

Herr Jesus segnet hoheitsvoll die Menge ...

Die Augen senken sich vor seinem Licht.

Das Gas rauscht leise zischend durch den Raum.

Betäubt die Märtyrer ... Wie stehn sie weich!

Herr Jesus flüstert noch - man hört es kaum -

"O, seid gesegnet, Friede sei mit euch!"

Sie sind dahin - sie sind dahin!

Wie Millionen auf dieselbe Weise,

aus allen Erdenländern - auch aus Wien -

und ruhen jetzt vor Gott in weiten Kreise.

Herr Jesus saß zu seines Vaters Rechten,

der kleine Engel lag zu Seinen Füßen.

umhüllt von Himmels wunderbaren Prächten

und Halleluja tönt, um all zu grüßen!

Gottvater sprach: "Nun hab ich meinen Sohn

zum Opfer noch einmal dahingegeben.

Ihr seid die Zeugen, ihr vor meinen Thron!

Nun harrt auf euch ein ewig selig Leben.

Die Mahner seid ihr nun für Immerzeiten -

Gerechtigkeit muss herrschen jetzt auf Erden -

muss fügen sieh in alle Höhn und Weiten -

sonst lösch die Menschheit ich und alles Werden!

Zum letzten Mal mahn ich die Menschenheit

zur Liebe, Duldsamkeit und zum Verstehen.

Unwiderruflich bis in alle Ewigkeit

wird dieses Wort von mir zuletzt bestehen!"

Geschrieben im März 1945.

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