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Soziale Töpfe auch für die Reichen?

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Auf den ersten Blick klingt sie ja verführerisch einfach, die Forderung, daß der Bezug einer Sozialleistung nur sozial gestaffelt möglich sein soll: Warum soll, wer viel verdient, auch noch aus sozialen Töpfen ernährt werden?

Eine nähere Betrachtung zeigt freilich, daß in dieser Forderung das Versicherungsprinzip, ein grundlegendes Strukturelement, das den Kernbereich der heutigen Sozialleistungssy-steme - die Sozialversicherung -prägt, in Frage gestellt ist. Dies wird in der öffentlichen Diskussion nicht erörtert, ist aber wichtig: Bislang geht man ja in der Sozialversicherung davon aus, daß der Bezug der Leistung im Versicherungsfall primär von versicherungstechnischen Kriterien wie der Versicherungsdeckung und der Beitragsleistung, nicht jedoch von der subjektiven Einkommens- und Vermögenslage des Versicherten abhängig sein soll.

Nicht zuletzt dieses Verständnis hat es ermöglicht, Sozialversicherung vom Arme-Leute-Geruch zu befreien und als Sicherungseinrichtung für die Gesamtbevölkerung zu konstituieren. Sozialversicherung steht insoferne im paradigmatischen Gegensatz etwa zur Sozialhilfe, wo nach wie vor nicht versicherungstechnische Kriterien wie die Eigen(beitrags)leistung, sondern die individuelle soziale Bedürftigkeit die tragende Voraussetzung für den Leistungsbezug ist.

Trotz dieses unbestreitbaren Vorteils des Versicherungsgedankens, meine ich, daß auch in der Sozialversicherung ein Paradigmenwandel zu erwarten ist, auf Grund dessen in das bisher primär vom Versicherungsprinzip geprägte System verstärkt eine einkommensabhängige Beurteilung nach der Bedürftigkeit einfließen wird. Die Vorstellung ein-kommensahhänonirer Snzialleistnngen' ist nämlich nicht nur populär, sondern auch auf der Grundlage des Versicherungsgedankens in sich durchaus schlüssig: Warum sollte man weiterhin einkommensunabhängig undifferenziert - und nicht nur für eine einkommensabhängige Notlage - versichern, wenn das Versicherungssystem die einkommensunabhängige Leistungsgewährung nicht mehr trägt?

Ein solcher Paradigmenwandel sollte freilich differenziert erörtert' werden. Eine Differenzierung ist etwa hinsichtlich der Sach- und der Geldleistungen notwendig:

Was die Finanzierung von Sackleistungen betrifft, die vor allem die Krankenversicherung dominieren, sind Selbstbehalte sinnvoll; ich werde auf die damit verbundenen Fragen noch gesondert eingehen (Seite 19).

Anders hingegen bei den Geldleistungen: Hier stellt sich ein besonderes Problem dadurch, daß die Koppelung des Sozialleistungsbezugs an Einkommensgrenzen dazu führen kann, daß die Inanspruchnahme von Sozialleistungen früher oder später zum Armutsindikator wird. Ob wir das wirklich wollen?

Aus diesem Grund ist nicht zu erwarten, daß Geldleistungen gänzlich einkommensabhängig gestaltet werden: Auch „Reiche" werden in Zukunft Pensionsansprüche haben. Allerdings wird es viel häufiger als derzeit zu einem Ruhen oder einem Entfall der Pensionen kommen, wenn sie mit Vermögen, Erwerbseinkommen oder Pensionseinkommen zusammentreffen. Geldleistungen aus der Sozialversicherung werden daher früher oder später noch stärker auf eine bloße Grundversorgung reduziert sein werden, als dies heute der Fall ist.

Darüber hinaus sind auch Veränderungen in der Leistungshöhe zu erwarten. Dabei läßt sich wohl seriös derzeit nicht prognostizieren, ob es nur zu einem relativen Absinken des Leistungsniveaus kommt, oder ob man auch das Pensionsanfalls- und das -antrittsalter hinauszögert. Mir scheint es wahrscheinlich zu sein, daß verstärkt auf bonus/malus-Systeme zurückgegriffen werden wird: Wer später in Pension geht, dessen Pension wird steigen. Klar ist aber, daß man in absehbarer Zeit nicht mehr so lange Zeit hindurch so hohe Pensionen beziehen wird können, wie dies derzeit der Fall ist. Verstärkte Eigenvorsorge ist unter diesem Blickwinkel jedenfalls angesagt.

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