"Also, ich gehe dann jetzt aber wirklich …“

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Offenheit, Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe stehen im Zentrum jeder guten Erziehung. Wenn nur die Eltern selbst nicht ständig lügen würden!

Stellen Sie sich vor, Sie wären ein vierjähriges Bürschchen und Ihre Mutter würde Ihnen folgende, ganz banale Frage stellen: "Hast du schon wieder deinen Bruder gebissen?“ Was würden Sie tun? Würden Sie die ganze Wahrheit über Ihre Lippen bringen ("Ja natürlich - siehst du nicht die Zahnabdrücke!“); würden Sie sich angestrengt zu rechtfertigen versuchen ("Ja, aber nur ein bisschen, weil er hat mich vorher gezwickt!“); würden Sie in Ihrer Not eine kleine Persönlichkeitsspaltung durchlaufen ("Das war nicht ich, das war jemand anderer!“); oder würden Sie eiskalt lügen?

Vierjährigen ist das alles zuzutrauen - und noch viel mehr: Sie schwindeln und flunkern, sie träumen und erfinden Fantasiegefährten, sie zeigen sich lügend von ihrer Schokoladenseite und stoßen Menschen mit ihrer Ehrlichkeit vor den Kopf. "Warum ist die Frau so dick?“ oder "Mama, du wirst vor mir sterben!“ - all das lässt man Vierjährigen gerade noch durchgehen.

Mit sechs oder sieben Jahren sieht die Chose schon etwas anders aus. Kinder dieses Alters schaffen es laut Pädagogen bereits, gezielt die Unwahrheit zu sagen - und spontan zu unterscheiden, wann Lügen einigermaßen in Ordnung sind und wann nicht.

Gute Gründe für die Unwahrheit gibt es jedenfalls genug, weiß die deutsche Lern- und Erziehungsberaterin Uta Reimann-Höhn: Da wären etwa die Angst vor Strafe (beispielsweise nach einer zerbrochenen Fensterscheibe), der Wunsch nach Anerkennung (indem Papa ein Rolls Royce angedichtet wird), das Gefühl der Überforderung (durch eine Hausübung, die man kurzerhand für erledigt erklärt) oder einfach blanke Scham (wegen einer vergeigten Schularbeit). Wie Eltern darauf reagieren sollen? Nicht dramatisieren, bestrafen oder gar öffentlich beschämen, rät die Expertin. Lieber das Problem unter vier Augen klären - und sich um eine Atmosphäre des Vertrauens bemühen.

Etwas anders liegen die Dinge freilich bei der fünften Schwindel-Variante - der Notlüge aus Rücksicht, Höflichkeit oder einem anderen edlen Motiv. "Lassen Sie Ihr Kind bei Notlügen gewähren“, lautet hier der gut gemeinte Rat, "denn in seinem späteren Leben wird es die ganz sicher brauchen.“

Die Mär von der Lügennase

Am häufigsten offenbar dann, wenn das Kind selbst einmal Kinder hat. Laut einer Studie an 114 US-amerikanischen und 85 chinesischen Eltern, die im Jänner dieses Jahres im Fachblatt Internal Journal of Psychology erschienen ist, tischen fast alle Mütter und Väter ihren Sprösslingen Lügen auf - sei es aus Stress, sei es aus schierer Verzweiflung. Sie greifen zu Essenslügen oder "Ich gehe jetzt aber wirklich“-Lügen, zu "Wenn du dich nicht gleich benimmst“-Lügen oder "Ich habe gerade kein Geld dabei“-Lügen, zu "Du warst wirklich toll“- Lügen oder auch zu Märchenlügen - bevorzugt jenen von Zahnfee und Weihnachtsmann. Ein Fünftel der Amerikaner und zwei Fünftel der Chinesen belügen ihre Kinder pikanterweise sogar damit, dass ihnen beim Lügen eine riesengroße Nase wächst. .

Und was sagt Erziehungsexpertin Reimann-Höhn zu alledem? "Eltern haben Vorbildfunktion. Bemühen Sie sich also um Ehrlichkeit und Offenheit. Das gilt auch bei peinlichen Fragen und schmerzhaften Wahrheiten.“ Stellen Sie sich etwa vor, Sie wären eine Mutter und Ihr vierjähriger Sohn würde Ihnen eine ganz banale Frage stellen: "Warum hast du denn so selten zu uns hergeschaut? Dann hättest du ganz leicht sehen können, ob ich jemand beiße.“

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