Humanität ist immer möglich

Werbung
Werbung
Werbung

Véronique Gens ist der Star der musikalisch wie auch szenisch geglückten Neuproduktion von Glucks „Iphigénie en Tauride“ im Theater an der Wien.

Als großer Opernreformer ist Christoph Willibald Gluck in die Operngeschichte eingegangen. Jahrzehnte lang war mehr darüber zu lesen als zu hören und sehen. Im Gefolge der Originalklangbewegung hat sich dieses Bild gewandelt. Wenigstens einige der Opern sind zu einem selbstverständlichen Bestandteil des Repertoires geworden. Darunter die unterschiedlichen Stilistiken verpflichteten „Iphigénie“-Auseinandersetzungen. Die modernere, die Brücke zu Mozart schlagende „Iphigénie en Tauride“ ist seit dem Wochenende im Theater an der Wien auf dem Programm. In Französisch mit deutschen Untertiteln.

Erfahrungen aus dem Gefängnis

Inszeniert hat Torsten Fischer, in diesem Haus nach unterschiedlich beurteilten Arbeiten, wie Spohrs „Faust“, Massenets „Don Quixote“, Smetanas „Dalibor“, zuletzt Cherubinis „Médée“, kein Unbekannter. Mit den bei Gluck geschilderten tragödienhaften Entwicklungen kennt er sich aus. Hautnah wurde er damit in früheren Jahren als Gefängnislehrer konfrontiert. Schon damals stellte er sich immer wieder die Frage: Ist, so schrecklich das Geschehene im Einzelnen sein mag, Resozialisierung möglich?

Diesen Gedanken greift er nicht zuletzt im Finale auf. Pylade stürzt mit einer Schar Griechen herein und erschlägt Thoas, heißt es im Libretto von Nicolas-François Guillard. In Fischers Deutung, frei nach Goethes „Iphigenie“-Version, hält Iphigénie das Massaker auf, das sinnlose Morden in der Familie nimmt ein Ende. Thoas gibt auf. Die Fragen bleiben: Kommt es zur Umkehr? Hat Humanität nach Blutrache eine Chance?

Mehrschichtig und traumspielartig charakterisiert Fischer das Sujet. Wenigstens Ersteres macht er plausibel. Er lässt die schwarz gewandeten Protagonisten (Kostüme: Andreas Janczyk) in einem schmucklosen, von hohen grauen Mauern bestimmten Ambiente (Vasilis Triantafillopoulos) spielen. Zuweilen verdoppelt er sie durch stumme Darsteller. Weil er der Dramatik des Sujets nicht traut? Um die Konzentration des Beobachters deutlicher auf die eine oder andere Szene zu fokussieren? Das bleibt offen. Notwendig wäre dieser Kunstgriff nicht. Dafür hätte man die Traummomente (Lichtregie: Diego Leetz) atmosphärischer zeichnen können.

Umso mehr konzentriert sich die Regie auf das Agieren der einzelnen Personen. Sie führt vor Augen, wie sehr Situationen, zumal unerwartete, zu plötzlichen Veränderungen führen können. Fischer bringt nicht nur seine einstigen Erfahrungen aus dem Gefängnisalltag ein. Er lädt die Besucher auch zu persönlicher Reflexion ein, rückt dabei aber von seiner Botschaft nie ab: Humanität ist immer möglich.

Auch musikalisch ist diese Neuproduktion ein Glücksfall. Erstaunlich, was Harry Bicket aus dem Orchester, den Wiener Symphonikern, an klanglicher Finesse, rhythmischem Charme, vor allem Flexibilität herausholt. So, als hätte es seine Reputation nicht im Konzertsaal, sondern seit Jahrzehnten in der Oper gesammelt. Gewiss, die eine oder andere Passage, namentlich zu Beginn, hätte man auch dynamisch differenzierter darstellen können. Aber Bicket – unter anderem Gastdirigent an der New Yorkler „Met“, am Londoner Opernhaus Covent Garden, an der Bayerischen Staatsoper München und Künstlerischer Leiter von „The English Concert“ – ging es weniger um Details als um eine spannende Gesamtschau, den Aufbau einer nie abflauenden Dramatik. Dies ist ihm gelungen. Selten hat man diesen Gluck so aus einem Guss gehört.

Größe und Unmittelbarkeit

Fabelhaft auch die Sänger. Egal, ob Andrew Schroeder als Thoas, Stéphane Degout als Oreste, der künftig wieder mehr an der Wiener Staatsoper zu hörende Rainer Trost als Pylade, Petra Simková und Agnes Scheibelreiter als Priesterinnen, Teresa Gardner als Griechin, Andreas Jankowitsch als Minister (zu denen sich die Schauspieler Anna Franziska Srna und Christoph Zadra als Clytemnestre und Agamemnon hinzugesellten) oder der ideal ins Geschehen eingebundene, vorzügliche Arnold Schoenberg Chor. Sie alle warteten mit einer untadeligen, zuweilen packenden sängerischen und schauspielerischen Leistung auf, machten deutlich, wie aktuell das Sujet ist, welche Größe und Unmittelbarkeit Glucks Musik ausstrahlt.

Die Krone dieser Produktion gebührt Véronique Gens. Unglaublich, was sie alles an vokalen und gestalterischen Facetten aus ihrer Titelrolle herausholte, mit welcher Selbstverständlichkeit sie auf der Bühne agierte, ihre unterschiedlichen Situationen berührend deutlich machte, schließlich für die überraschende Finalwendung sorgte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung