Binnenwanderung: Und jetzt alle back to the roots!
Aufwachsen in der Provinz, studieren in der Stadt, Kinderkriegen in der Provinz oder im Speckgürtel: So sieht die Binnenwanderung vieler Zeitgenossen aus - aber nicht die meine. Ein Erklärungsversuch.
Aufwachsen in der Provinz, studieren in der Stadt, Kinderkriegen in der Provinz oder im Speckgürtel: So sieht die Binnenwanderung vieler Zeitgenossen aus - aber nicht die meine. Ein Erklärungsversuch.
Als ich noch ein Kind war, lag hinter unserem Haus ein schier endloser Obstgarten mit knorrigen Zwetschken-, Apfel- und Birnbäumen. Die Früchte dieses Gartens waren meilenweit von jeder späteren EU-Norm entfernt, aber zur Mostoder Schnapsgewinnung durchaus geeignet, weshalb im Herbst die ganze Sippschaft tagelang zum Obstklauben ausrücken musste. Das hat meine Liebe zum Pflanzen und Ernten nicht wirklich befördert.
Irgendwann schlugen dann Bagger eine Schneise durch das Idyll und machten Platz für die neue Umfahrungsstraße. Bis dahin hatten sich alle Autos, Lastwagen und Busse über den Hauptplatz gekämpft - sehr zum Ärger mancher Anrainer, aber zur Freude der vier Wirtshäuser, die sich fürsorglich um die Wartenden kümmerten. Mit der neuen Straße nahm diese Geschäftigkeit im Zentrum freilich deutlich ab, und mit jedem Einkaufszentrum, das man auf die grüne Wiese klotzte, wurde es noch ruhiger. Irgendwann schloss dann das letzte Lebensmittelgeschäft am Hauptplatz seine Schiebetüren. Nur ein Bauernladen blieb übrig - für den heiligen Rest an Autolosen.
Durchatmen in der Stadt
All das bekam ich nur noch aus der Ferne mit, denn wie die meisten meines Alters war ich schon längst weggezogen: Nach Linz, Salzburg, Graz oder Wien hatte es uns verschlagen, in Betonburgen, die man "Studentenheim" nannte, oder in abgewohnte Zimmer mit Dusche am Gang. Man brauchte Großstadt-, Bibliotheks- und Beislluft, um endlich frei durchatmen zu können. Ein Garten war dazu nicht zwingend vonnöten.
Spätestens mit der ersten Niederkunft, bei manchen auch schon früher, keimte freilich die große Sehnsucht nach ländlicher Beschaulichkeit: weil man endlich irgendwo ankommen wollte; weil man nach leistbaren, eigenen vier Wänden strebte; und weil man seinen Kindern wieder das bieten wollte, was man selber einstmals hatte: Natur, Freiheit, Ruhe. Einen nach dem anderen zog es hinaus in die Speckgürtel der Städte, manche sogar wieder heim in den Ort der eigenen Geburt. Kredite wurden aufgenommen, Zweitautos finanziert, Garten-Trampoline und Griller gekauft. Von der romantischen Sehnsucht nach Grün blieb zwar aus Kostengründen oft nur ein schmaler Rasenstreifen rund ums Reihenhaus übrig - und der Traum nach einem naturverbundeneren Leben abseits der urbanen Stress- und Abgashölle führt selbst wieder zu mehr Pendlerstress und Zersiedelung. Aber was soll's: My Home is my Castle.
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