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Die erste Lorca-Gesamtausgabe in Spanien

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Fcderico Garcia Lorca: Obras Completas. Herausgegeben und kommentiert von Arturo de Hoyo. Einleitung von Jorge Guillen, Nachwort von Vicente Aleixandre. Aguilar, S. A.de Edidones, Madrid

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Fcderico Garcia Lorca: Obras Completas. Herausgegeben und kommentiert von Arturo de Hoyo. Einleitung von Jorge Guillen, Nachwort von Vicente Aleixandre. Aguilar, S. A.de Edidones, Madrid

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„Federico Garcia Lorca und seinem Werk objektiv gegenüberzutreten, ist noch immer schwierig und gewagt, weil einem unabhängigen Urteil über den wirklichen literarischen Wert seiner Werke vieles hindernd im Wege steht. Die Schwierigkeiten liegen nicht etwa im Werk selbst begründet — Lorcas Gedichte und Dramen sind nicht schwerer verständlich als die anderer Autoren —, sondern vielmehr in dem Wissen um des Dichters gewaltsamen Tod, dessen Tragik man später sinndeutend auf das Werk übertrug...“ Mit diesen Worten charakterisierte noch - im Mai dieses Jahres der im Exil in Mexiko lebende andalusische Dichter Luis Cernuda, ein langjähriger Freund Lorcas, die Problematik des bisherigen literarhistorischen Bemühens um das Werk des Dichters. Federico Garcia Lorca — 1S98 im Dorf Fuentevaqueros der Landschaft Granada geboren — wurde im Juli 1936, zu Beginn des spanischen Bürgerkrieges, von Zivilgardisten standrechtlich erschossen. Ob aus politischen Gründen, ist nie einwandfrei festgestellt worden. Der Dichter gehörte keiner der damaligen politischen Gruppen oder Parteien an und lebte nur seinem Werk. Da er aber in seinen „Zigeuner-Romanzen“ die spanische Zivilgarde öfters als eine der Freiheit feindlich gesinnte Macht auftreten ließ, die die übrigen Glieder der Gesellschaft bedrängte und mißhandelte, kann man annehmen, daß primitivere Vertreter dieser Polizeitruppen 6ich in ihrer Ehre verletzt sahen und die damals allgemein im Lande herrschende Verwirrung benützten, um sich an Lorca zu rächen. s *

Wie dem auch sein mag, es steht fest, daß des Dichters Werke seit 1939 in Spanien nicht erscheinen konnten, und es ist nicht weiter verwunderlich, wenn dieses Nichterscheinen mit Lorcas gewaltsamen Tod in Verbindung gebracht wurde, ja, daß man von einem förmlichen Verbot seiner Bücher durch die politische Zensur sprach. Der Literarhistoriker Guillermo de Torre x;nd Francisco Garcia Lorca, des Dichters Bruder, hatten indessen in Buenos Aires schon 193S mit der Veröffentlichung einer Gesamtausgabe der Werke Lorcas begonnen, die aber außerhalb Argentiniens nttr sehr schwer zugänglich war. Daraus entnommene Sonderdrucke, der „Romancero Gitano“ vor allem, waren auch in Spanien in jeder Buchhandlung, ja selbst an Zeitungskiosken erhältlich und wurden viel gekauft. Aber es haftete ihnen der aufregende Odor verbotener Bücher an, und wer sich mit Lorca beschäftigte, tat dies in Spanien mit dem Bewußtsein, einen revolutionären „Freiheitsdichter“ zu lesen. Luis Cernuda hatte Recht, in einem solchen Klima war ein objektiver Zugang zum Werk des Dichters nur schwer möglich.

Nach all dem bedeutete das Erscheinen einer nationalen Ausgabe von Lorcas Werken für Spanien eine literarische Sensation. Dabei hatte offenbar, wie man jetzt erfährt, nicht so sehr die Strenge der staatlichen Zensur bisher den Druck verhindert, sondern vielmehr die Familie des Dichters, die die Herausgabe seiner Werke in Franco-Spanien nicht zulassen wollte. Aber den Freunden Federicos gelang es doch — nach fast zwanzig Jahren —, die Geschwister Lorcas zum Nachgeben zu bewegen und die Erlaubnis zur Veröffentlichung sämtlicher Werke des Toten zu erlangen. Damit ist zum erstenmal auch offiziell der Weg zu einem der größten Dichter seines Volkes frei geworden.

Die neue Ausgabe ist eine bibliophile Kostbarkeit. Aber mehr als das: sie ist als textkritische Ausgabe eine philologische Leistung ersten Ranges und wird auch außerhalb Spaniens höchste Anerkennung finden. Zahlreiche Noten und Anmerkungen berichten über die Herkunft der Texte und verzeichnen Varianten und Schreibfehler. Eine umfangreiche Bibliographie stellt zum erstenmal die innerhalb und außerhalb Spaniens erschienene Lorca-Literatur zusammen, die bereits ins Uferlose zu wachsen beginnt. Ein Notenanhang bringt die wichtigsten musikalischen Kompositionen des Dichters: viele seiner Zeichnungen sind, teils schwarz, teils farbig, in den Text eingestreut.

Aber vor allem: das schon durch die Anzahl der geschaffenen Verse in seiner Fülle gewaltige lyrische Werk des kaum Siebenunddreißigjährigen liegt nun als eine Einheit vor, und klarer als je zuvor wächst dem Leser daraus das wirkliche Bild des Dichters entgegen. Da sind die ersten, noch zögernden Schritte auf dem Weg zum späteren Ruhm, das „Libro de Poemas“ (1921), das so reizende Gebilde wie „Los eneuentros de un caraeol aventurero“ (Die Abenteuer einer streunenden Weinbergschnecke) oder die „Geschichte vom Lagarto viejo“ (vom alten Herrn Eidechs) enthält.

Der Weg führt weiter, tiefer hinein nach Andalusien, es folgen „Primeras Canciones“ (1922) und „Canciones“ (1922 bis 1924), Gesänge der Landschaft und der Liebe, Volks- und Kinderlieder. Unter ihnen Werke, die den Ruhm des Dichters begründen, wie jenes „Reiterlied“, dessen strömender Rhythmus mit dem unvergeßlichen Leitmotiv „Cordoba — einsam und fern!“ anschwillt und verebbt.

Der „Romancero Gitano“ endlich leitet von der volksliedhaften Naturlyrik zum poetischen Mythos über, zur Stilisierung des Urwüchsig-Konkreten, zur farbig-musikalischen Ueberhöhung des körperlich oder geistig Geschauteu und so zu den ersten surrealistischen Bildern des Dichters. Daneben zeigt sich in diesen Romanzen besonders die dem Gesamtwerk Lorcas innewohnende dramatische Dualität: dem Zigeuner-Kollektiv tritt das Kollektiv der Guardia Civil gegenüber, an sich lyrische Figuren werden beispielhaft und symbolisch gefaßt und dramatisch ins Feld geführt. Ein erregender Kampf mit Bedrohung, Angriff und Abwehr beginnt, der nichts mehr mit den Zigeuneridyllen früherer Zeiten zu tun hat. Wie falsch es aber ist, in Lorca nur den „Zigeuner-Dichter“ zu sehen, und den „Romancero Gitano“ als die Krönung seines Werkes zu betrachten, zeigt ein Weiterblättern zur Sammlung „Poeta en Nueva York“, deren Gedichte in den Jahren 1929 bis 1930, während Lorcas Studienzeit in Amerika, entstanden. Hier erlebte der Bauernsohn Andalusiens als gewaltigen Schock das Aufeinanderprallen von spanisch-abendländischer Geistigkeit und monströser amerikanischer Maschinenwelt. Nicht nur in sein Leben, auch in sein Dichten tritt nun die große Zäsur, zu der der „Romancero Gitano“ mit seinen surrealistischen Ansätzen überleitete. In einem Notturno, „Stadt ohne Schlaf“, sagt er Amerika prophetisch die Rache der vergewaltigten Naturwesen voraus.

Der Dichter selbst flieht zu den Negern nach Harlem, die in seinen Augen die symbolischen Opfer der Technisierung der Welt darstellen und deren naturwüchsige Kraft ihn sein Gleichgewicht wiederfinden läßt. t

Seine Krönung findet das Werk Lorcas schließlich in der gewaltigen Klage um Ignacio Sänchez Mejias, einem Dichtwerk von 220 Versen, das zum Gedenken an einen in der Arena getöteten Stierkämpfer und Freund entstand und in manchen Ausschnitten seherisch den eigenen tragischen Tod vorausahnt. Die lyrische Abteilung der neuen Gesamtausgabe legt ferner zum erstenmal die Sammlung „Divan del Tamarit“ vollzählig vor. Sie entstand — wohl nach dem Vorbild von Goethes „Westöstlichen Diwan“ — um 1936, wurde posthtim veröffentlicht und war bisher nur in einzelnen Sonderdrucken zugänglich. Dem „Diwan“ folgten „Ausgewählte Gedichte“ aus dem Nachlaß, unter ihnen viele Sonetten, die zum erstenmal veröffentlicht werden. Einige von ihnen mögen zu den „Sonetos del amor oscuro“ gehören, den „Sonetten der dunklen Liebe“, die der Dichter im Mai 1936, kurz vor seinem Tode, im Freundeskreis vorlas und die Luis Cernuda erst kürzlich noch als unauffindbar beklagte.

Auch die Sammlung der dramatischen Werke Lorcas ist in diesem Band vervollständigt worden. Wir finden als Erstdruck das 1919 entstandene Theaterstück im Stil der Coinmedia dell'Arte „El maleficio de la mariposa“ (Die Hexerei des Schmetterlings), dessen Manuskript lange Zeit als verloren galt; wir begegnen auch der Puppenspiel-Farce „Los Titeres de Cachiporra“ (Die Marionetten von Cachi-porra) wieder, deren Entstehungszeit nicht bekannt ist und die bisher nur als Privatdruck veröffentlicht war.

In seiner brillant geschriebenen Einführung beschwört Jorge Guillen mit Wehmut die vergangene Zeit der Generation junger Künstler und Dichter, die vor 1927 sich in Madrid und Barcelona um Garcia Lorca scharten. Mit seinem heiter-ausgeglichenen Naturell, seinen sprühenden Ideen und seiner Musikalität war Lorca stets der gesellige Mittelpunkt jener freundschaftlich-musikalischen Zusammenkünfte. „Lorca hören und seiner Poesie verfallen sein, war eins!“ so schildert Jorge Guillen die Wirkung des Dichters auf seine Zuhörer. Und doch, so betont der Biograph, suchte Lorca nie Volkstümlichkeit um jeden Preis. Dichtung als Kunst achtete er hoch, und er wußte, daß sie ohne Anstrengung sich niemanden schenkt. „Liebe, Mühe und Verzicht, sei ihm die Poesie“, sagte er einmal, „kein funkelnder Wasserstrahl, sondern geprägte Form.“ Seine immer wieder geäußerte Bewunderung für die Musik Bachs und für ihr mathematisches Kalkül bestätigt diese Auffassung, die in einer außerordentlichen Strenge gegen das eigene Werk zum Ausdruck kam. Guillen sieht das Geheimnis der trotz dieser Haltung ungeheuren Popularität des Dichters in einem fast magischen Verfallensein des Hörers oder Lesers, der Lorcas Verse begeistert in sich aufnimmt, sehr oft, ohne sie zu verstehen. Es ist — vor allem im „Romancero Gitano“ — der nach den Gesetzen moderner Aesthetik neu zum Tönen gebrachte vertraute Klang einer großen Tradition, die trotz aller oberflächlichen Verschüttungen in einem empfindsam-klugen Volk lebendig blieb und immer ein offenes Ohr findet.

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