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Erde aus Österreich

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zu erscheinen und mit ,3a“ zu stimmen, um so die Annahme des neuen demokratischen Wahlgesetzes in diesem konservativen Gremium zu ermöglichen.

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Ohne Kenntnis der Vergangenheit gibt es keinen Weg in die Zukunft. Wer sich der Zeit entgegenstellt, stirbt.

(Isaak Babel)

Die Republik Österreich vergibt sich also nichts, wenn sie an ihrem Nationalfeiertag auch einen Blick in die Vergangenheit tut, und stellt sich damit der heutigen Zeit in keiner Weise entgegen.

Csokors Tragödie „3. November 1918“ spielt in den Kamißchen Alpen, in der Gegend von Tarvis, dem heutigen Tarvisio. Diese Alpenkette, die sich von Osttirol und dann längs der auch heute im wesentlichen unverändert gebliebenen Südgrenze von Kärnten entlangzieht, war im ersten Weltkrieg während fast zweieinhalb Jahren, vom Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 bis zu der großen österreichisch-deutschen Offensive im Oktober 1917, eine Abwehrfront. Hier hatten schon Römer, Germanen und windische Slawen gekämpft. Hier waren sich im Jahre 1809 der Stiefsohn Napoleons und Vizekönig von Italien, Eugene Beauharnais, und Erzherzog Johann, der Bruder Kaiser Franz I., entgegengetreten. Der Widerstand, den die kleinen, mit nur je 200 Mann besetzten Forts von Mialborghet und Predil, westlich und südlich von Tarvis selbst, ihren weit überlegenen Feinden leisteten, verhinderte unter anderem das rechtzeitige Eintreffen der italienisch-französischen Armee in der Schlacht von Aspern und trug so zu dem Sieg Erzherzog Karls und zu der ersten Niederlage des bis dahin unbesiegten Napoleon bei. Man hat Malborghet und Predil als die „österreichischen Thenmopyilen“ bezeichnet.

Ein anderes Thermopylai ist der weiter westlich gelegene Naßfeldpaß, der, aus dem Gailtal steil bis zu mehr als 1500 Meter Höhe ansteigend, ebenso stell wieder in die Ebene von Pontafel-Pontebba, der damaligen Grenzstation zwischen Österreich und Italien, abfällt. Es ist auch heute noch eine einsame und von zackigen Bergen überschattete Gegend. Am Beginn der Paßstraße entdeckt der Wanderer, der für historische Reminiszenzen etwas übrig hat, einen vom Waldgestrüpp halb verdeckten Meilenstein mit den Initialen ihres Erbauers — F. J. I., und auf halber Höhe des Weges verkündet eine Tafel von den Mühen, die die Truppen mit dem kriegsgerechten Ausbau der Chausee und der Heraufschaffung von Kanonen und Munition zur Paßhöhe gehabt hatten. Hier, nur einige Meter von den Italienischen Schlagbäumen entfernt, die die heutige Grenze bezeichnen, erhebt sich auf einem Hügel ein kleines, ganz mit Holzschindeln bedecktes Kapellchen. In seinem Innenraum meldet eine Inschrift, daß dies winzige Gotteshaus von dem ehemaligen Kommandanten der im ersten Weltkrieg am Naßfeld eingesetzten 92. Infanteriedivision, Feldmarschalileutnant Felizian von Krasel, dem Andenken an die dort gefallenen Soldaten errichtet wurde. An der Österreich zugewandten Seite der Kapelle befindet sich ein eingefriedeter Platz ohne Grabsteine. Ein Massengrab also. Nur eine schlichte Holztafel gibt Kunde von den hier Beigesetzten. Es sind vierzehn im ganzen: 1 Zugsführer, 3 Gefreite, 7 Infanteristen, 2 Kanoniere und 1 Schütze. Sie fielen während der Zeit vom 11. Juli 1915 bis zum 9. Oktober 1916. Einer von ihnen wird als „unbekannt“ bezeichnet, aber die Namen der übrigen dreizehn sind bekannt, und, wenn man von ihren Vor- und Nachnamen auf ihre Volkszugehörigkeit schließen kann, so waren es fünf Ungarn, drei Deutsch-Österreicher, und je ein Kroate, Slowake, Italiener, Rumäne und ein Jude. Da fällt es einem wie Schuppen von den Augen: das ist Csokors „3. November 1918“ — nur mit umgekehrtem Vorzeichen! Während am Naßfeldpaß ein Kommandant seinen gefallenen Soldaten die letzten Ehren erwiesen hat, wird in Csokors Drama ein Oberst beerdigt, der nur eine Heimat hat — das Reich und die Armee, die es beschützte, und sieben seiner Offiziere geben ihm symbolisch die Erde ihrer alt-neuen Heimatländer ins Grab: Erde a us Ungarn und Polen, aus Slowenien und Italien, aus der Tschechei und aus Kärnten. Der siebte, er fragte zwar Offiziersuniform, gilt aber nicht als ganz voll, der jüdische Regimentsarzt Dr. Grün, ist der einzige, der, wenn auch zögernd, dem Oberst die Erde des Landes mitgibt, das einst die gemeinsame Heimat seiner Kameraden war, von dem man aber am 3. November 1918 noch nicht wissen konnte, ob es dieses Land nach dem Zusammenbruch noch einmal als selbständigen Staat geben werde: Erde aus Österreich. Oberleutnant Ludoltz jedenfalls scheint nicht daran zu glauben. Er kennt nur Kärnten und wird sich später dem Mann aus Braunau anschließen, der Österreich abschaffen wollte, die „Ostmark“ erfand und die Dr. Grüns zur Hölle schleifen ließ.

Und das Soldatengrab am Naßfeldpaß? Ein Dr. Grün ruht auch in seiner Erde. Er war zwar kein Arzt, sondern nur ein einfacher Infanterist und ist in einem schweren Gefecht am 8. März 1916 gefallen. Er hieß Israel Daszkal und war ein Jude aus Ungarn. Mehr wissen wir nicht über ihn. Wir wissen auch nicht, ob ihm ein Säckchen mit Erde aus dem Heiligen Lande mitgegeben wurde, wie es das Religionsgesetz für Juden vorschreibt, die in den Ländern der Zerstreuung beerdigt werden. Was wir aber wissen, ist, daß Angehörige von Israel Daszkals Familie in den zwanziger Jahren nach dem damaligen Palästina ausgewandert sind, und daß einer von ihnen, Abraham Daszkal, heute Direktor des Elektrizitätswerkes von Jerusalem ist.

So zieht sich von Österreichs Erde, die Israel Daszkal und seine dreizehn Kameraden verteidigt haben und in der sie ruhen, eine unsichtbare Kette zur Erde Israels, zu der Stadt Jerusalem, deren Königstitel einst von den österreichischen Kaisern getragen wurde.

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