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Gruß an eine Fahne

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In dieser Woche wird der „Tag der Fahne“ begangen. Es soll — der Gedanke hat viel für sich — eine Feier mitten im Alltag sein. Eine patriotische Gedenkminute in der Hast der Zeit und des Geschäfts sozusagen, eine stille Erinnerung, daß es jenseits der Diskussionen um Löhne und Preise, um Rentabilität und Produktionssteigerung, um Handelsspannen und Valori-sicrungskoeffizienten nicht nur den ominösen „Staat“ als Interessenkonglomerat gibt, sondern auch noch — beinahe scheut man sich heute — das Vaterland. Kluge Worte werden ohne Zweifel gesprochen werden. Die öffentlichen Gebäude werden lückenlos flaggen. Auch von den Giebeln nicht weniger Privathäuscr werden gewiß rotweißrote Fahnen wehen.

Wir aber möchten den Tag nützen und eine Fahne grüßen. Eine ganz bestimmte. Es war ein (Verhangener Aprilmorgen, da stieg sie an einem der beiden Ecktürme des Wiener Rathauses empor. Sic sah keine festliche Stadt. Sie sah auch nicht den geschäftigen Werktag. Sie wehte über einem verwüsteten Wien. Brandgeruch stieg zu ihr empor und die letzten Schwaden des Pulverdampfes. Man schrieb nämlich das Jahr 1945. Die letzten Ausläufer einer Welt-katastrophe waren durch die Straßen der einmal so fröhlichen Stadt hindurchgegangen und in ihrem Gefolge der Hunger und andere Schrecken.

Und da stieg ein Streifen dreifarbigen Tuches an einem Mast empor und brachte wieder Hoffnung. Die durch Jahre verpönten Farben versprachen den verstörten Menschen den Anbruch eines neuen Tages. Sie brachten die Nachricht, daß es wieder ein Oesterreich geben wird.

Bis heute ist es nicht restlos geklärt, wer jene Fahne aufgezogen hat und woher sie überhaupt stammte. Gleichgültig: sie war da — und das war in jenen Tagen sehr, sehr viel. Wer immer sie gesehen hat, schämt sich auch heute nicht der inneren Bewegung jener Stunde.

Die Fahne vom rechten Turm des Wiener Rathauses bekam bald Gefährten. Viele Gefährten. Landauf, landab. Sie wehten, noch etwas zögernd und im Schatten von vier mächtigen Flaggen, als die erste Regierung ans Werk ging. Scharfer Oktoberwind peitschte sie, als es 1950 galt, die bisher gefährlichste Situation der Zweiten Republik — den kommunistischen Putschversuch — zu meistern. Schwarzer Trauerflor umgab die österreichischen Farben, als sie sich an der Bahre des ersten Bundespräsidenten senkten. Aufs neue hoben sie sich, als die Exekutive dessen Nachfolger in einer ersten und bisher einmaligen Parade begrüßte. Trübe Tage blieben nicht aus, Tage, in denen das rotweißrote Tuch vergeblich bemüht war, sich gegen die dunkclrote Fahne, das Sternenbanner, den Union Jack und die Trikolore durchzusetzen. Doch einmal wurde es doch Mai, Mai 1955 ... Gleichberechtigt flatterten unsere Fahnen vom Wiener Belvedere neben denen der Großen. Und dann sanken diese. Eine nach der anderen wurde niedergeholt, ein fremder Soldat nach dem anderen verließ Oesterreich — nach West und Ost. Und vor einem Jahr, am 26. Oktober, war der lange, mühselige Weg von der Befreiung zur Freiheit an seinem Ziel. Es gab nur noch eine Fahne zwischen' Bodensee und Neusiedler See, zwischen Thaya und Drau — e“ben jene, der in diesen Tagen festlich gedacht wird.

Die Menschen sind undankbar. Sie haben auf dem Weg durch ein bewegtes Jahrzehnt unserer Geschichte gerade die Künderin des ersten

Zipfels österreichischer Freiheit längst vergessen. Die Fahne des Jahres 1945 vom rechten Rathausturm bekam keinen Ehrenplatz im Museum. Sie machte still und bescheiden neuen, größeren, schöneren Platz. Vielleicht' liegt sie noch, unbeachtet und von anderen nicht mehr zu unterscheiden, in irgendeinem verstaubten Winkel eines Magazins. Vielleicht wurde sie auch eines Tages, da schon nicht mehr recht ansehnlich, achtlos zur Seite getan. Ein typisches Schicksal, ein österreichisches Schicksal.

Da in dieser Woche ein Tag der Fahne gewidmet ist, steht sie plötzlich wieder vor unserem geistigen Auge. Sie und der steile Weg, den wir seit jenen Tagen herauf bis in unsere Gegenwart zurückgelegt haben.

Vieles wurde in mühevoller Kleinarbeit, an der jeder einzelne seinen Anteil hat, erreicht. Alles steht auf dem Spiel — heute und in jeder Stunde der Zukunft. Vielleicht täte gerade der Gegenwart etwas Besinnung auf jenen Gemeinschaftsgeist gar nicht schlecht, aus dem heraus das Werk des staatlichen und wirtschaftlichen Aufbaus allein möglich war. Anscheinend ist es leichter, einen solchen guten Geist bei allseits knurrendem Magen zu hegen als bei gut gedeckten Tischen, wo es um die Zuteilung des größeren Stückes der Sozialprodukt genannten Torte geht. Nutzen wir den „Tag der Fahne“ nicht nur zu Festreden, sondern auch zur allgemeinen staatspolitischen Gewissenserforschung.

Es liegt dem Oesterreicher nicht, sein Herz allzusehr an Aeußerlichkeiten zu hängen, vor ehernen Symbolen zu erschauern und bei der Musik knatternder Fahnenwälder sein Herz schneller schlagen zu lassen. Gerade das Gegenteil ist im Land, in dem ein großer Dichter „das sanfte Gesetz“ verkündet hat, der Fall.

Dennoch stehen wir nicht an, gerade in diesen Tagen über ein Jahrzehnt hinweg dieses unscheinbare rotweißrote Tuch vom Wiener Rathaus zu grüßen — die Fahne der ersten Stunde, die schönste Fahne Oesterreichs.

Sie sei nicht nur Erinnerung, sie bleibe Mahnung: für dich, für mich, für uns alle.

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