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Die einsamen Fahnen

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Welcher Österreicher, welcher Wiener wird je das Datum des 10. April vergessen können. Am 10. April 1938 fand die Farce einer Volksabstimmung statt, welche der „größten Volkszugsmeldung der deutschen Geschichte“, der Gewalt, die das freie Österreich überwältigt hatte, ein legales Mäntelchen umhängen sollte. Kreischende Lautsprecher an allen Straßenecken, kreischende Sprechchöre, schreiende Plakate von allen Wänden, geschmacklose Fahnen von allen Dächern, sie alle waren ein Zeichen, daß Österreich tot sei und niemals wiederauferstehen sollte. Und doch war alles Humbug. In diesem Tumult des Verbrechens, der Lüge und der Narrheit war nur eines wahr gewesen, ein Wort, das in seiner Begrüßungsrede an Hitler am Tag zuvor der neue nazistische Bürgermeister Wiens, Dr: Neubacher, vom Erker des Wiener Rathauses aus gesprochen hatte, da er von Wien als dem eroberten „Bollwerk gegen die nationalsozialistische Revolution“ sprach und ausrief: „Hier, mein Führer, hatten sich eile ihre Feinde verschanzt.“ Das Bollwerk des jahrelangen Widerstandes war nun gefallen, die Führer der Verteidigung, viele Tausende bis hinab zu einfachen Rottenführern, waren gefangen und schmachteten in den Lagern. Hoffnung schien in diesen Tagen fast Vermessenheit, und doch lebte sie in vielen tausen-den Herzen trotz allem weiter. Die Gewalt hatte gesiegt und Europa begnügte sich mit einigen Nachrufen in Form von Zeitungsartikeln. ,

Es ist eine seltsame geschichtliche Fügung, daß genau sieben Jahre nach diesem traurigen 10. April 1938, da die Fahnen Österreichs endgültig verschwunden zu sein schienen, die Fahnen Rot-Weiß-Rot wieder über Wien flatterten.

Welch ein denkwürdiger Tag war doch dieser 10. April 1945, der jetzt schon wieder 25 Jahre zsurückliegt. Um halb drei Uhr früh hatten die ersten Spähtrupps der Armee des Marschalls Tolbuchin den Ring, die Grenze der Inneren Stadt, erreicht. Die dünne Kette von SS-Leuten, vielfach Skandinavier und Belgier, welche den Rückzug der Deutschen decken sollte, zogen sich auf das östliche Ufer des Donaukanals zurück. Dann flogen mit ungeheurer Detonation fast alle Brücken über den Kanal in die Luft. Im strahlenden Schein ging die Sonne auf und leuchtete über Gefallene, über die weggeworfenen Waffen und über die vorrückenden russischen Truppen. Tanks rollten über den Ring, schwere Lastkraftwagen brachten Munition nach vorne. In den Häusern, die vielfach nur noch Ruinen waren, war es ruhig. Monatelang hatte der „Wellenbrecher Breslau“ Widerstand geleistet. Hier in Wien fiel kein einziger Schuß aus den Kellerlöchern, keine Panzerfaust feuerte ihre Ladung auf die dahin-rollenden russischen Tanks. Wien wartete auf die Vollendung dieses Tages. Es wartete der Befreiung entgegen, an der es, selbst wehrlos, nicht aktiv mitwirken konnte. Von keiner Zentralstelle organisiert und dennoch fast selbstverständlich, übte die Bevölkerung eine ungeheure Sabotage an dem Befehl, äußersten Widerstand zu leisten. 40.000 Österreicher, die zu dieser Zeit in der

Deutschen Wehrmacht in Wien dienten, versickerten plötzlich und waren verschwunden.

Und an diesem 10. April 1945 stieg um 9.45 Uhr auf dem Palais Auers-perg, dem Sitz der österreichischen Widerstandsbewegung, nach sieben Jahren des Verstecktseins die erste österreichische Fahne am Mast empor. Wenige Stunden später erschien am linken Seitenturm des Wiener Rathauses die zweite Fahne. Es war ein strahlender Tag, dieser 10. April 1945. Eine unheimliche Stille lag noch über Wien. Hie und da nur krepierte ein Schrapnell oder fuhren Geschosse krachend durch die Lüfte oder surrten Flugzeuge herum. Einsam nur wehten die beiden Fahnen in den österreichischen Farben. Ihr Rot und ihr Weiß hob sich stark von dem Blau des Himmels ab. Der Wind strich leise über sie, so daß sie sich fast majestätisch bewegten.

Sie wehten auch noch am nächsten Tag, am Mittwoch, dem 11. April, als der Stephansdom, das Burgtheater und das Parlament zu brennen begannen. Sie flatterten in all den kommenden Tagen, in welchen Wien im Grunde ein herrenloses Land war und die Plünderungen der Truppen und der Einheimischen die letzten Zerstörungen vollbrachten und innerhalb weniger Tage mehrere tausend vergewaltigte Frauen sich im Allgemeinen Krankenhaus meldeten. Sie flatterten über einem Wien, das tiefste Wunden aufwies, dessen Bevölkerung halb verhungert war und das dennoch voller Hoffnung auf eine neue Zukunft wartete.

Denn das ist der große Unterschied zwischen 1918 und 1945. 1918 war Österreich viel weniger zerstört als 1945. Aber es war ein Land ohne Hoffnung. Mit seiner Geburtsurkunde hatte es sich gleichzeitig auch eine Sterbeurkunde ausgestellt. Jetzt, 1945, ein Trümmerhaufen, war dieses Land doch voller Hoffnung auf seine Wiedergeburt. Und fast alle Österreicher dachten in dieser Stunde, in diesen Tagen, in welchen die einsamen Fahnen über Wien flatterten und ein offizielles Österreich noch nicht einmal bestand, doch in erster Linie daran, über alle Hürden hinweg mit allen zusammenzuarbeiten, die ebenfalls in erster Linie nur an dieses Österreich dachten. An diesem Tage wurde jene Große Koalition aller Österreicher geboren, die voller Hoffnung bereit war, dieses neue Österreich über alle Klippen hinweg einer glücklichen Zukunft zuzuführen. Und aus dem Geist dieses Tages heraus geschah tatsächlich das fast Unglaubliche: Österreich konnte nicht nur die so schweren Jahre der Nachkriegszeit überstehen, sondern schließlich auch die völlige Freiheit erringen.

Er wurde schon oft vergessen, dieser 10. April 1945. Vielfach von jenen, die diesen Tag bewußt noch nicht erlebten. Und die sich kaum vorstellen können, welche Zäsur im Leben so vieler Österreicher er damals bedeutete und heute noch bedeutet. Ohne diesen Tag wäre das heutige Österreich nicht. Und ohne das Bekenntnis dieser einsamen zwei Fahnen vom 10. April, die Unbekannte hißten, wäre es heute nicht selbstverständlich, daß in Österreich überall diese Farben gezeigt werden können.

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