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Iberische Röteln

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Wohl zum erstenmal seit Bürgerkriegsende, also seit bald dreißig Jahren, wehten in Spanien rote Fahnen. Die erste wurde von den Studenten an der Madrider philosophischen Fakultät aufgepflanzt, die zweite an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Allerdings sollten diese roten Fahnen weniger die Heilslehre von Hammer und Sichel, sondern eher die marxistische Front der „Arbeiter und Studenten“ — wie auf einer von ihnen zu lesen war — predigen.

Begleitet wurde die Fahnenhissung von den seit dem 15. Mai mit erneuter Kraft wiederaufgenommenen Studentenkrawallen und Unruhen, die durch die einmonatige Schließung einer Reihe von Madrider Fakultäten unterbrochen worden waren. Wie vorher wurden auch jetzt Molotov-Cočktails geworfen, Omnibusse umgestürzt und in Brand gesteckt, Barrikaden errichtet und die Polizei, die auf die Studenten wie ein rotes Tuch wirkt, mit Steinen, Flaschen und Mobiliar beworfen. Unmittelbare Gründe für diese Steigerung ergeben sich fast täglich: Einmal ist es das Schweigen des neuen Erziehungsministers Villar Palasi auf die „Mindestforderungen“ der Studentenjunta, in denen die Wiederherstellung der akademischen Unverletzlichkeit, eine allgemeine Amnestie für verhaftete Studenten, Rückgabe der eingezogenen Pässe und Suspendierung von Kriegsgerichtsverhandlungen gegen Studenten nebst den bereits seit 1965 — dem eigentlichen Anfang der Studentenrevolte — beanspruchten demokratischen Freiheiten und Rechte reklamiert werden; ein andermal ist es die Verhaftung von Studentenführern oder das Vortragsverbot gegen den 1965 wegen seiner Beteiligung an einem Schweigemarsch der Studenten auf Lebenszeit relegierten Lateinprofessor Garcia Calvo.

.um Anarcho-Kommunismus

Der spanische Durchschnittsbürger hat sich schon längst an die Universitätsrevolte gewöhnt und schenkt ihr nur noch wenig Beachtung. Offiziell spricht man stets von „kleinen Agitatorengruppen“ und von „Minoritäten“. Gleichgültig einerseits und die Tendenz zur Bagatellisie- rung anderseits, die oft durch die Zeitungsberichterstattung mit ihrer Minimisierung der Vorgänge im eigenen Land und der Hervorhebung oder dem Suchen von Parallelen im Ausland die Lesermeinung dirigieren und von gegen das System gerichteten innerpolitischen Vorgängen ablenken, können leicht dazu führen, daß nicht nur Madrids Universität, sondern die spanische Studentenschaft überhaupt immer mehr nach links zum Anarcho-Kommunismus abrutscht. Die roten Fahnen, die von einigen wenigen geschwungen werden, tragen viele in sich drin.

Blinde Durchschnittsbürger

Dies offenbarte sich bei einem Liederabend des katalanischen Protestsängers Raimon, der nach fünfmaligem Verbot in der Madrider wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät vor mehr als sechstausend Studenten auftrat und mit seinen pazifistischen, gegen Angst, Blutvergießen und Hunger gerichteten Gesängen die Rufe nach Freiheit, nach der Einheit zwischen Arbeitern und Studenten, aber auch nach Che Guevara und einer Volksdemokratie entfesselte. Daß es im Anschluß daran zu einer tumultuösen Manifestation in der Universitätsstadt und in einer von Madrids Hauptstraßen kam, ist fast selbstverständlich. Denn obzwar die Studenten gegen eine Wiederholung von 1936 — des Chaos, das im selben Jahr zum spanischen Bürgerkrieg führte — sind, wollen sie ihre von Studenten und Arbeitern getragene Volksdemokratie über die Zerstörung der Oligarchie und einer möglichen Bourgeoisen Demokratie, die von ihnen als Fortsetzung des „jetzigen faschistischen Regimes“ befürchtet wird, erreichen. Dem sich blind stellenden spanischen Durchschnittsbürger, der die bisher noch leichten Röteln der Studenten nicht sehen will, könnten, wie schon in Spanien geschehen, erst dann die Augen aufgehen, wenn ihm die anarcho-kommunistischen roten Fahnen mit schwarzem Sichel und Hammer unübersehbar vor der Haustür flattern. Dann wird er vielleicht auch merken, daß die bequeme Ausrede auf eine ähnliche Entwicklung in anderen europäischen Ländern nicht zutrifft, da eben in diesen anderen Ländern gegen Mißstände protestiert wird, nicht aber wie in Spanien gegen das Regime und die unter ihm ausruhende Gesellschaft.

So wird der Herbst die Entscheidung darüber bringen, ob das Regime noch einmal die revoltierende Jungintelligenz zu zähmen vermag und sich durch innere Reformen wieder eine Mehrheit sichert.

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