Martin Habacher - © Foto: Katrin Bruder

Leben mit Behinderung: "Unterschätzt uns nicht ständig!"

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Zwei Menschen mit körperlichem Handicap, Martin Habacher und Gabriele Berghofer, diskutieren über Behindertenwitze, nervige Hilfsangebote, Abhängigkeiten und ihre Unlust, kontrolliert zu werden.

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Zwei Menschen mit körperlichem Handicap, Martin Habacher und Gabriele Berghofer, diskutieren über Behindertenwitze, nervige Hilfsangebote, Abhängigkeiten und ihre Unlust, kontrolliert zu werden.

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Wir treffen uns beim Ausgang der U-Bahn-Station Volkstheater in Wien. Ein weißer Blindenstock legt nahe, dass es sich bei der wartenden Dame in knallroten Leggings um Gabriele Berghofer handeln könnte. Ich spreche sie an, biete ihr meinen Arm an und steige mit ihr die paar Stufen Richtung Museumsquartier hinunter, während von der anderen Seite ein Mann mit extravaganter Kopfbedeckung über die Rampe rollt. Es ist Martin Habacher in Begleitung eines seiner fünf Assistenten. Im gut besuchten "Café Corbaci“ gibt es vorderhand keine baulichen Barrieren - nur einen gereizten Kellner, der uns auf Grund einer Gastbeschwerde zwingt, das Fotografieren später im nahen "designforum“ nachzuholen. Auch eine Speisekarte in Blindenschrift ist inexistent. Die Dame in Rot nimmt es gelassen …

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Gabriele Berghofer: Dann muss mir halt jemand vorlesen. Allein oder mit anderen Blinden gehe ich eh in kein Lokal. In ganz Wien fällt mir nur ein einziges Restaurant ein, wo es eine Karte in Blindenschrift gibt …

Martin Habacher: Sind dort Stufen?

Berghofer: Ja, ich glaube drei.

Habacher: Aber auf Blinde sind sie eingestellt. Das ist wirklich super …

Berghofer: Die beiden Behinderungen passen eben nicht gut zusammen: Was für euch gut ist, ist für uns schlecht - und umgekehrt.

Habacher: Da fällt mir ein passender Witz zum Aufwärmen ein: Ein Blinder, ein Tauber und ein Rollstuhlfahrer fliegen gemeinsam nach Lourdes, weil es dort heilendes Wasser geben soll. Als sie das Flugzeug verlassen, merkt der Blinde als Erster an seinem Stock, dass am Boden eine Regenpfütze ist. Er kniet nieder und träufelt sich Wasser auf die Augen. Plötzlich fängt er an zu schreien: "Ich kann sehen! Ich kann sehen!“ Der Taube hört das natürlich nicht, sieht aber den Blinden herumfuchteln und benetzt sich die Ohren. Plötzlich schreit er: "Juhu, ich kann hören!“ Da fährt auch der Rollstuhlfahrer in die Pfütze, beugt sich vor, gibt sich Wasser auf die Füße - und was passiert dann?

Berghofer: Er fällt aus dem Rolli …

Habacher: Nein, er hat neue Reifen!

Martin Habacher - © Foto: Katrin Bruder

Martin Habacher

Der 1977 geborene Kremsmünsterer, der auf Grund seiner Glasknochenkrankheit im Rollstuhl sitzt, hat lange in Altenhof (OÖ) gewohnt. Seit 2001 lebt und arbeitet er in Wien und wird von drei persönlichen und zwei Arbeitsassistenten unterstützt.

Habacher hat Kommunikationswissenschaften und Marketing studiert. Heute ist er als selbständiger Social-Media- und Accessibility-Berater tätig, moderiert auf Okto TV die Sendung "Zitronenwasser“ und betreibt einen Blog.

Der 1977 geborene Kremsmünsterer, der auf Grund seiner Glasknochenkrankheit im Rollstuhl sitzt, hat lange in Altenhof (OÖ) gewohnt. Seit 2001 lebt und arbeitet er in Wien und wird von drei persönlichen und zwei Arbeitsassistenten unterstützt.

Habacher hat Kommunikationswissenschaften und Marketing studiert. Heute ist er als selbständiger Social-Media- und Accessibility-Berater tätig, moderiert auf Okto TV die Sendung "Zitronenwasser“ und betreibt einen Blog.

DIE FURCHE: Herr Habacher, darf jeder einen solchen Witz erzählen?

Habacher: Es kommt auf die Runde an - und wie man es meint. Natürlich ist es komisch, wenn ein gesunder, knackiger, mehr oder weniger lustiger Mann auf der Bühne einen Behindertenwitz erzählt.

DIE FURCHE: Ich habe deshalb gefragt, weil sich viele im Umgang mit behinderten Menschen ziemlich unsicher und unbeholfen fühlen - mich eingeschlossen. Vorhin etwa habe ich nicht gewusst, ob und wie ich Sie, Frau Berghofer, angreifen soll …

Berghofer: Das habe ich auch gespürt (lacht). Ich hänge mich immer gleich bei jedem ein, überhaupt, wenn es noch kühler ist, und man nicht wie im Sommer Haut an Haut spaziert. Wenn ich engen Kontakt habe, fühle ich mich sicherer und spüre besser, wo der andere hingeht. Beim Mobilitätstraining lernt man auch, dass man beim Führen die sehbehinderte Person nicht vor sich herschieben darf, weil sie sich sonst als Rammbock fühlt. Viele Freunde sagen zwar: Von hinten habe ich dich besser unter Kontrolle. Doch man braucht mich nicht unter Kontrolle haben!

DIE FURCHE: Freut es Sie, wenn Fremde Ihnen ihre Hilfe anbieten - oder nervt es Sie eher?

Berghofer: Es nervt mich nicht. Hauptsache, sie sprechen mich vorher an und greifen mich nicht einfach an und schieben oder ziehen mich irgendwohin. Das kann ich gar nicht leiden. Meine "Rache“ ist dann, dass ich mich dafür einfach nicht bedanke, auch wenn es vielleicht gut gemeint war.

Habacher: So etwas passiert mir fast jeden Tag. Ich versuche immer freundlich zu sein: Aber einfach hergehen und schieben oder drücken, das geht gar nicht. Wenn mir Leute ungefragt in die U-Bahn helfen wollen, am Joystick ankommen und der Rollstuhl mit seinen 120 Kilo ein Eigenleben entwickelt, dann machen sie mehr kaputt und können sich oder mich verletzen. Das heißt: Hilfe anbieten, ja. Aber bitte zuerst fragen. Und nicht angefressen sein, wenn die Antwort "Nein, danke“ etwas grummelig kommt.

Berghofer: Gestern in der U-Bahn hat mich ein Mann gefragt, ob ich mich statt ihm in die Ecke stellen will. So sind wir ins Gespräch gekommen und er hat gesagt, dass es für ihn ein Wahnsinn wäre, nichts sehen zu können. So offen zu reden ist gut, da kann ich den Leuten die Scheu nehmen, einen Behinderten anzusprechen. Am schlimmsten ist es, wenn man hinter meinem Rücken flüstert: Schau dir die an, die ist blind!

Habacher: Wenn du deinen Stock wegpackst, sieht man aber gar nicht, dass du blind bist. Auf mich reagieren die Leute ganz anders: Wenn eine Gruppe aufgekratzter Jugendlicher in die U-Bahn einsteigt, dann schaut meistens der Lauteste über die Schulter eines Freundes zu mir rüber, dann stockt das Gackern, und dann kommt ein Prusten: hahaha. Da ist es nicht verwunderlich, wenn man keinen guten Tag hat.

Gabriele Berghofer - © Foto: Katrin Bruder
© Foto: Katrin Bruder

DIE FURCHE: Sie haben in ihrem Blog davon geschrieben, dass es reicht, Rollstuhlfahrer zu sein, um in eine Schublade gesteckt und ständig verwechselt zu werden …

Habacher: Ja, ich werde oft mit anderen kleinen Menschen im Rollstuhl verwechselt. Als Tüpfelchen auf dem I ist es sogar egal, welchem Geschlecht man angehört. Ich bin auch schon mit der ehemaligen Grün-Abgeordneten Theresia Haidlmayr verwechselt worden.

Berghofer: Es passiert mir auch, dass sich Leute in Geschäften sofort an "die Blinde“ erinnern. Beim zweiten Mal darf das aber nicht mehr sein …

DIE FURCHE: Sie beide sind häufig auf Assistenten oder Begleiter angewiesen - und müssen sich vor diesen Menschen im übertragenen oder auch im wörtlichen Sinn entblößen. Wie mühsam ist das?

Habacher: Ich bin es nicht anders gewöhnt. Als ich im Behindertendorf "Assista“ in Altenhof gewohnt habe, hat es ständig andere Praktikanten oder Zivildiener gegeben. Scham kann man sich da nicht leisten. Auch heute muss mir ein Assistent helfen, wenn ich während einer Konferenz aufs Klo gehen oder duschen muss. Und wenn ich am Telefon flirte oder ein Projekt von mir nichts geworden ist, dann bekommt er es mit. Manche Assistenten erzählen mir ihrerseits intimste Sachen, andere regen sich schon über die Frage auf, ob sie mit mir in ein Bordell gehen würden, um dort für meinen Blog Prostitutierte zu interviewen, ob sie auch Sex mit Behinderten haben würden. Zwischen diesen Polen muss ich als fünffacher Assistenznehmer jonglieren. Hoffentlich werde ich ein guter Mensch daraus.

Berghofer: Die Angewiesenheit ist auch im Sport mühsam, aber anders als bei Herrn Habacher. Ich habe drei, vier fixe Begleiter, die an bestimmten Tagen mit mir in die Prater Hauptallee laufen gehen, doch das sind oder werden teilweise Freunde, die ich nicht dafür bezahle. Die Menschen, die mir helfen, machen das gerne - und jeder hat seine Aufgaben: Manche laufen mit mir, andere lesen die Post vor oder machen die Sommerzeitumstellung.

Gabriele Berghofer - © Foto: Katrin Bruder

Gabriele Berghofer

Die Wienerin, Jahrgang 1963, ist von Geburt an sehbehindert und später erblindet. Sie hat eine Ausbildung zur Stenotypistin durchlaufen, arbeitet seit über 30 Jahren als Kanzleibedienstete bei der Stadt Wien und seit 1992 im Jugendamt (Mag Elf).

Seit der Blindenschule betreibt Berghofer Behindertensport. Mit ihren Begleitern hat sie bei Weltmeisterschaften und Paralympics in fast allen Disziplinen Spitzenplätze errungen. Den Halbmarathon läuft sie derzeit in 1:41:09.

Die Wienerin, Jahrgang 1963, ist von Geburt an sehbehindert und später erblindet. Sie hat eine Ausbildung zur Stenotypistin durchlaufen, arbeitet seit über 30 Jahren als Kanzleibedienstete bei der Stadt Wien und seit 1992 im Jugendamt (Mag Elf).

Seit der Blindenschule betreibt Berghofer Behindertensport. Mit ihren Begleitern hat sie bei Weltmeisterschaften und Paralympics in fast allen Disziplinen Spitzenplätze errungen. Den Halbmarathon läuft sie derzeit in 1:41:09.

DIE FURCHE: Das klingt, als ob es als behinderter Mensch ziemlich wichtig wäre, sozial zu sein. Man könnte auch zynisch werden …

Berghofer: Jeder ist so geschickt im Sozialen, wie er ist. Aber vielleicht bemühe ich mich mehr. Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass es einfach besser ist, wenn ich offener bin. Ich lasse mich auch nicht mehr so leicht verletzen. Wenn heute jemand blöd fragt, dann sage ich einfach: Was fragen Sie so blöd? Da kann ich ziemlich scharf sein.

Habacher: Der Großteil der behinderten Menschen ist wohl noch nicht so selbständig wie wir zwei: Viele wohnen in Einrichtungen, haben gluckenhafte Eltern oder leben am Land. Dort würde ich ein Auto oder einen Fahrer brauchen. Hier in Wien kann ich allein in einer Zwei-Millionen-Menschen-Metropole herumfahren.

Berghofer: Ich finde mich auch in Wien relativ gut zurecht. Nachdem ich als Kind lange einen guten Sehrest hatte, habe ich noch viele Bilder im Kopf. Blöd sind nur Gegenden, die umgebaut wurden. Auch neue U-Bahn-Stationen muss ich mir mühsam erarbeiten. Da gehe ich oft hin und her und merke mir die Zahl der Stufen.

Ich habe schon als Kind einen großen Spruch geführt. Und als Fünfjähriger, der wie ein Zweijähriger ausschaut, wie ein Vierzehnjähriger geredet.“

Martin Habacher

DIE FURCHE: Apropos gluckenhafte Eltern: Wie mühsam haben Sie sich Ihre Freiheit erkämpfen müssen?

Habacher: Wir waren vier Geschwister, da haben meine Eltern genug zu tun gehabt. Außerdem habe ich schon als Kind einen großen Spruch geführt und als Fünfjähriger, der wie ein Zweijähriger ausgeschaut hat, wie ein Vierzehnjähriger geredet. Das ist natürlich gut angekommen.

Berghofer: Meine Mutter ist früh verstorben, danach ist es mit den Augen rapid schlechter geworden. Und mein Vater hat versucht, so zu tun, als ob nichts wäre. Wenn ich etwas umgeschmissen habe, hat er gesagt: Kannst du nicht schauen? Und ich habe geantwortet: Tät’ ich, wenn ich könnte! Das hat es mir später schwer gemacht, zu meiner Behinderung zu stehen. Aber jetzt geht alles gut: Ich gehe wandern, tanzen, laufen, schifahren und alles mögliche.

DIE FURCHE: Ist der Sport eine Art Kompensation Ihrer Sehbehinderung?

Berghofer: Ja sicher. Beim Behindertensport habe ich Menschen kennengelernt, die vollblind waren und trotzdem langlaufen, radfahren oder Schifahren gegangen sind. Außerdem ist es leichter, Begleiter zu finden, wenn ich sage "Gehen wir laufen!“ als "Gehen wir spazieren!“

Habacher: Bei mir ist die Rhetorik die Kompensation. Man muss sich ja Gehör verschaffen. Vor Jahren hat mir eine Krankenschwester von jener Babystation, auf der ich wegen meiner Knochenbrüche ständig gelandet bin, gesagt: Ich sei der einzige Säugling gewesen, mit dem sie reden konnte und der auch geantwortet hat!

DIE FURCHE: Zwischendurch wollten Sie sogar Schauspieler werden …

Habacher: Ja, als 17-Jähriger vom Land habe ich einfach am Max-Reinhardt-Seminar angerufen, ob ich als Rollstuhlfahrer studieren kann. Dann war Stille. Und dann kam wie aus der Kanone geschossen: Nein, Sie können ja nicht fechten! Heute würde ich mich von so einer Meldung nicht mehr abwimmeln lassen. Heute sage ich den Menschen, was geht und was nicht geht. Sie haben ja keine Ahnung und trauen dir zu wenig zu!

Berghofer: Das Gefühl kenne ich - vor allem im Beruf. Es hat lange gedauert, bis ich mich als Kollegin durchsetzen konnte. Immer hat es geheißen: Das kannst du nicht! Warum darf nicht ich entscheiden, ob ich das kann oder nicht? Unterschätzt uns nicht ständig!

Bei mir hat es immer geheißen: Das kannst du nicht! Warum darf nicht ich entscheiden, ob ich das kann oder nicht?

Gabriele Berghofer

DIE FURCHE: Von mehr Zutrauen abgesehen: Was würden Sie sich sonst noch wünschen?

Habacher: Ich fände es schon ganz nett, wenn die gesetzlichen Vorgaben in Sachen Barrierefreiheit umgesetzt würden. Viele neue oder renovierte Lokale, Geschäfte und Büros sind noch immer nicht barrierefrei.

Berghofer: Also, ich habe das Gefühl, es läuft momentan ganz gut. Was noch besser wäre? Na, wenn ich sehen könnte.

DIE FURCHE: Das erzwingt eine allerletzte Frage: Gibt es durch eine Behinderung nicht auch Vorteile?

Habacher: Ich kann mir vielleicht mehr Freiheiten nehmen, das zu sagen, was ich mir denke, weil die anderen eine Beißhemmung haben. Und seit ich in Wien wohne, wurde ich noch nie in der U-Bahn kontrolliert.

Berghofer: Wenn bei einem U-Bahnausgang kontrolliert wird, stolziere ich vorbei wie eine Prinzessin. Dann höre ich hinter mir immer: "Lasst sie! Lasst sie!“

DIE FURCHE: Ist das jetzt gut oder diskriminierend?

Habacher: Es ist sicher eine Diskriminierung - aber eine, die mir schon zwanzig Mal 70 Euro gespart hat.

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