Hiroshima - © Foto: picturedesk.com/ imagebroker / Moritz Wolf

Atomares Minenfeld

19451960198020002020

Soll und kann die Ukraine Atomwaffen erhalten? Die Frage steht zumindest im Raum – doch die Konsequenzen eines solchen Schrittes könnten verheerend sein. Eine Analyse.

19451960198020002020

Soll und kann die Ukraine Atomwaffen erhalten? Die Frage steht zumindest im Raum – doch die Konsequenzen eines solchen Schrittes könnten verheerend sein. Eine Analyse.

Werbung
Werbung
Werbung

A m 6. August jährte sich der Abwurf der US-amerikanischen Atombombe über dem japanischen Hiroshima zum 78. Mal. Seit dem zweiten Abwurf über Nagasaki drei Tage später, am 9. August 1945, wurde die verheerendste aller Waffen bis heute nie wieder gegen Menschen und im Krieg eingesetzt. Doch nach Meinung vieler Experten steht die Welt heute so nah am möglichen Einsatz von Atomwaffen wie seit den Zeiten des Kalten Krieges nicht mehr. Bereits wenige Monate nach seinem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hatte Präsident Wladimir Putin den Einsatz von Atomwaffen als mögliches Szenario bezeichnet, sollte Russlands Existenz bedroht sein. „Das ist kein Bluff“, sagte der Kreml-Chef im September 2022. „Diejenigen, die versuchen, uns mit Atomwaffen zu erpressen, sollten wissen, dass sich die Wetterfahne drehen und auf sie zeigen kann.“ Die mögliche Stationierung von Atomwaffen in der Ukraine durch den Westen hatte Putin auch als Erklärung für den russischen Überfall auf das Nachbarland genannt.

Wertloses Memorandum

Russland und die USA verfügen über die weltweit mit Abstand größten Atomwaffenarsenale. Die Ukraine stand vor rund drei Jahrzehnten in dieser Rangliste kurzzeitig an dritter Stelle. Denn in dem 1991 unabhängig gewordenem Land waren damals noch riesige Bestände aus Sowjetzeiten stationiert – jedoch ohne operative Kontrolle, die stets in Moskau lag. Nach der Unterzeichnung des Budapester Memorandums im Jahr 1994 wurden die Waffen schrittweise nach Russland gebracht bzw. vernichtet. Im besagten Memorandum sicherten Russland, die USA und Großbritannien der Ukraine im Gegenzug Sicherheitsgarantien zu. Doch der Überfall Russlands hat gezeigt, dass das auf vier knappen Seiten gefasste Memorandum das Papier nicht wert war, auf dem es stand. Auch deshalb deuteten ukrainische Politiker in der Vergangenheit immer wieder an, entweder würde die Ukraine Teil der NATO – oder aber sie müsse „über nukleare Aufrüstung nachdenken“, wie etwa der langjährige ukrainische Botschafter in Deutschland und spätere Vize-Außenminister der Ukraine, Andrej Melnyk, im April 2021 sagte.

Nach dem aus Kiews Sicht enttäuschenden Ergebnis des NATO-Gipfels von Mitte Juli in Wilna dürften diese Erwägungen an Nahrung gewinnen. Zwar fordert die ukrainische Regierung offiziell keine Atomwaffen vom Westen. Dennoch glüht die Debatte darüber im Hintergrund weiter – wenn auch eher unter militärpolitischen Falken. Michael Rubin, Senior Fellow des einflussreichen US-Think-Tanks American Enterprise Institute (AEI), schreibt etwa: „Angesichts der ukrainischen Gegenoffensive wird die Drohung, dass Russland taktische Atomwaffen einsetzen könnte, immer wahrscheinlicher.“ Doch diese Drohung solle nicht etwa durch Verhandlungen gemindert werden, sondern durch eine Gegendrohung: „Präsident Biden sollte Russland klar und deutlich sagen, dass jeder Einsatz von Atomwaffen jeglicher Größe gegen die Ukraine dazu führen wird, dass die USA der Ukraine die gleichen Arten von Atomwaffen zur Verfügung stellen, ohne zu kontrollieren, wo und wie die Ukraine sie einsetzen könnte“, so Rubin. „Der Westen muss seine Nuklearpolitik an der Realität ausrichten, nicht an Wunschdenken.“

Diese Position ist zwar selbst in den USA keine Mehrheitsmeinung – zumindest noch nicht. Vor allem, weil Russland einen solchen Schritt als ultimativen Endpunkt bezeichnet. „Wenn jemand im Westen alles auf diesem Planeten ausschalten will – sowohl das Licht als auch im Prinzip die Existenz –, dann wird er anfangen, dem Kiewer Regime Atomwaffen zu liefern“, sagte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, im Juni dieses Jahres. Doch sprechen moderatere Stimmen auch in Europa immer deutlicher darüber, dass Atomwaffen als Instrument der Abschreckung künftig wieder relevanter werden müssten.

Atomwaffen als „Versicherung“?

Der Ukrainekrieg habe die Bedeutung von Atomwaffen als „ultimative Lebensversicherung“ unterstrichen, schreibt etwa die Militärexpertin Claudia Major von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). „Das Prinzip der nuklearen Abschreckung schützt die NATO-Staaten und Russland gleichermaßen. Denn bislang hat Russland jeglichen Konflikt mit den Alliierten vermieden.“ Die Lehre, die viele Staaten aus dem Ukrainekrieg ziehen würden, sei: „Wer Atomwaffen hat, ist sicher, wer keine hat: ist vogelfrei.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung