StrandTelaviv

Der tiefe Riss

19451960198020002020

Bei der israelischen Bevölkerung geht die Angst vor einem Bürgerkrieg spürbar um. Viele spielen mit dem Gedanken, dauerhaft auszuwandern. Ein Ortstermin.

19451960198020002020

Bei der israelischen Bevölkerung geht die Angst vor einem Bürgerkrieg spürbar um. Viele spielen mit dem Gedanken, dauerhaft auszuwandern. Ein Ortstermin.

Werbung
Werbung
Werbung

Sein rumänischer Reisepass würde demnächst ablaufen. Deshalb beantragte Alexandru in Tel Aviv, wo er seit einigen Jahren lebte, beim rumänischen Konsulat online einen Termin zur Erneuerung seiner Papiere. Als er ein Datum zugewiesen bekommt, das weit mehr als ein halbes Jahr in der Zukunft liegt, glaubt er an ein Versehen. Er setzt sich auf seinen Motorroller und fädelt sich durch den sympathisch-chaotischen Verkehr entlang der schier endlosen Party- und Geschäftsmeile an der Strandpromenade zum Konsulat, um das Problem direkt mit seinen rumänischen Landsleuten zu klären.

Was dann passiert, erzählt er, noch immer erstaunt, beim Abendessen in großen Runde. Der späte Termin sei kein Irrtum gewesen, belehrt ihn ein freundlicher Konsulatsmitarbeiter. Sie kämen hier mit der Arbeit einfach nicht mehr nach. Aber als er erfährt, dass Alexandru rumänischer Staatsbürger von Geburt an ist, der zwar in Israel lebt und arbeitet, aber keinen israelischen Pass besitzt, den neuen rumänischen also dringend braucht, erbarmt er sich, vergibt einen früheren Termin und bittet Alexandru mitzukommen. „Er hat mir Zimmer voller Regale mit neuen Pässen, bereit zur Abholung, gezeigt.“ Mehr als dreihunderttausend Anträge seien innerhalb kurzer Zeit bei ihnen eingegangen, erklärt ihm der davon völlig überforderte Mitarbeiter. Wohlgemerkt, fast alle Anträge von israelischen Staatsbürgern, die jetzt rumänische Vorfahren geltend machten, um so eine zweite Staatsbürgerschaft zu bekommen, die ihnen als Israelis den dauerhaften Aufenthalt in der EU sichert.

Das Gefühl, sein Land zu verraten

Am Tisch herrscht – für Israelis ja sehr untypisch – zunächst Schweigen. Dann sagt Liora leise, sie habe die österreichische Staatsbürgerschaft für ihre Familie beantragt. Was, ausgerechnet Liora? Deren Mutter als einzige der Familie lebend vor den Nazis aus Graz fliehen konnte und seither nichts mehr mit diesem Land zu tun haben wollte? Und deren Vater einer von jenen war, die Eretz Israel, „das Land Israels“, nach der Staatsgründung vor 75 Jahren aufgebaut haben. Ja, antwortet Liora. Früher hätte sie es selbst niemals für möglich gehalten, dass sie bei den Österreicherin um Papiere bitte. „Aber wenn sich hier diese extrem-rechten und ultrareligiösen Kräfte weiter durchsetzen, wenn es gar zum Bürgerkrieg kommt, dann soll mein Enkelsohn mit dem österreichischen Pass die Möglichkeit haben abzuhauen.“

Nun fangen die anderen an zu reden. Es stellt sich heraus: Alle Israelis am Tisch haben mittlerweile eine zweite Staatsbürgerschaft für ein EU-Land beantragt. Edo hat einen polnischen Pass, Viktor einen spanischen und Mickey zusätzlich zum israelischen den litauischen. Ihr Anrecht darauf ist absolut legal. Ihre Vorfahren sind auf der Flucht vor dem Holocaust aus diesen Ländern geflohen oder dort ermordet worden

Hier die Verbundenheit, dort dieser tiefe Riss, eine Spaltung, die sich seit 29 Wochen in Massenkundgebungen manifestiert.

Seit seiner Gründung 1948 ist Israel der Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden aus aller Welt. Man ist stolz darauf, dass Jahr für Jahr weiterhin Zehntausende „Alija machen“, nach Israel „aufsteigen“, wie die Einwanderung genannt wird. Dass nun aber eine immer größere Zahl Israelis mit dem Gedanken spielt, im Notfall dauerhaft auszuwandern und nicht nur vorübergehend etwa ins hippe Berlin umzuziehen, wird ungern thematisiert.

Auch für die Freunde an diesem Abend ist es eine Option, die hoffentlich niemals Wirklichkeit werden muss. Nur darüber zu sprechen, fühle sich wie Verrat an dem geliebten Land an, sagen sie. Dessen Existenzrecht weiterhin von vielen Feinden in Frage gestellt wird. Deshalb wollen sie es bei der Nennung ihrer Vornamen belassen. Was den familiär-lockeren Umgangsformen in Israel entspricht. Ausnahmslos alle Duzen sich. Es existiert nicht mal eine formelle Anrede in der hebräischen Sprache. Natürlich stehen auch an diesem Abend die Mezze in vielen bunten Tellerchen in der Tischmitte, woraus sich alle gemeinsam bedienen.

Liebe Leser, liebe Leserinnen

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

Ein ganz besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl und eine tief empfundene Verbundenheit zeichnen die israelische Gesellschaft aus. Einerseits. Auf der anderen Seite ist da dieser tiefe Riss. Eine Spaltung, die sich seit nun 29 Wochen in Massenkundgebungen manifestiert, in „Tagen des Widerstands“ und Streiks gegen Langzeitpremier Benjamin Netanjahu mit seiner Regierungskoalition aus extrem-rechten, ultra-orthodoxen und Siedler-Parteien. Hunderttausende protestieren gegen die geplante sogenannte Justizreform, mit der die Regierung die Kontrollfunktion des Obersten Gerichtes erheblich einschränken will. In erster Lesung ist das Gesetz angenommen. Zwei muss es bis zum Inkrafttreten noch passieren. Die Gegner unterstellen, dass der wegen Korruption vor Gericht stehende Netanjahu und seine Koalitionspartner vor allem aus persönlichen Gründen das Oberste Gerichts entmachten wollen. Netanjahu bestreitet dies. Er wirft den Richtern vor, sich zu sehr in politische Entscheidungen einzumischen.
Tatsächlich hat der Oberste Gerichtshof in Israel sehr weitgehende Befugnisse. Allerdings ist er auch die einzige Kontrollinstanz der Regierung. Israel hat keine Verfassung und kennt kein System der Checks und Balances, wie etwa zwischen Bundes- und Länderregierungen.


Entschluss 75 Jahre „vertagt“


Sollte die Justizreform in der Knesseth verabschiedet werden, könnte die Regierung willkürliche Entscheidungen treffen. Es wäre ihr möglich, Wahlen immer weiter zu verschieben. Sie könnte den Korruptionsprozess gegen Netanjahu für beendet erklären. Und Netanjahu wäre in der Lage, sein Versprechen gegenüber Arje Deri einzulösen und den Chef der strengreligiösen Schas-Partei wieder ins Kabinett zu holen, obwohl der wegen Steuervergehen vorbestraft ist. Aufgrund Deris krimineller Vergangenheit hatte das Oberste Gericht Anfang des Jahres dessen Berufung als Innen- und Gesundheitsminister für „unangemessen“ erklärt. Für die Gegner ist diese Justizreform ein großer Schritt weg von der Demokratie in Richtung eines autokratischen Staates. Sie warnen vor der „Orbanisierung“ Israels.
Aber in diesem erbittert ausgetragenen Konflikt geht es um weit mehr als um die Angst, dass Netanjahu sich ein allzu großes Vorbild am ungarischen Ministerpräsidenten nehmen könnte. 75 Jahre nach der Staatsgründung steht eine Entscheidung an, die damals bewusst vermieden wurde. Die Spannung zwischen religiösen und nicht-religiösen Jüdinnen und Juden war von Anfang an Teil der zionistischen Bewegung. Doch die grundsätzliche Frage blieb ungelöst: Judentum als Nationalität oder Judentum als Religion?

Die grundsätzliche Frage blieb ungelöst: Judentum als Nationalität oder Judentum als Religion? Für Staatsgründer Ben Gurion war die Nationalität wichtiger.

Für Staatsgründer Ben Gurion war Judentum als Nationalität wichtiger. Gleichzeitig akzeptierte er, dass die streng-gläubigen Juden in einer Parallelgesellschaft nach Gottes Gesetzen lebten. Es waren damals ja nur wenige Hundert. Mittlerweile beträgt der Anteil der Ultra-Orthodoxen in Israel 13 Prozent. Bei sechs oder auch mehr Kindern pro Familie, rechnen die Statistiker damit, dass es in rund zehn Jahren 18 Prozent sein werden. Sie zahlen keine Steuern, leisten keinen Militärdienst, studieren ausschließlich Gottes Wort. Am liebsten würden die nationalistisch-religiösen Hardliner die ganze Gesellschaft ihren göttlichen Gesetzen unterwerfen.

Sie wollen keinen Strom mehr am Schabbat, Geschlechtertrennung im öffentlichen Nahverkehr und einen Staat Groß-Israel in seinen ursprünglich biblischen Grenzen. Ihre Forderungen sind sehr laut geworden, seitdem klar ist, dass Netanjahu ohne sie keine Mehrheit hätte.

Finanzminister Bezalel Smotrich bezeichnet sich selbst als homophob und Araber-Hasser. Er hat sich für die „Ausradierung“ palästinensischer Gebiete im besetzten Westjordanland ausgesprochen. Genauso ein erklärter Feind der Palästinenser ist der rechtsextreme Siedler Itamar Ben-Gvir, den Netanjahu zum Minister für Nationale Sicherheit machte. Ben-Gvir punktet bei seinen Leuten, in dem er die Sicherheitskräfte mit extremer Härte gegen militante Palästinenser vorgehen lässt. Zuletzt bei der Großoffensive im Flüchtlingslager Dschenin. Miteinkalkuliert sind tote Zivilisten und die Gefahr, dass der ewige Konflikt mit den Palästinensern einmal mehr gefährlich eskaliert. Denn auch auf der palästinensischen Seite setzen sich die extremistischen Hardliner der Hamas und des Islamischem Dschihad immer stärker durch. Dabei sind die militanten Palästinenser aktuell die schwächsten Gegner. Erzfeind Iran und die Hisbollah im Libanon lauern auf jede Schwäche.

Das Wissen darum vereint nun wieder Regierung wie Gegner. Hier könnte ein möglicher gesichtswahrender Ausweg aus der Krise sein. Aber zunächst: Womit die Regierung nicht gerechnet hatte, ist der lange Atem der Widerstandsbewegung. Dass die säkularen, weltoffenen, queer-freundlichen Tel Aviver besonders massiv bei den Protesten vertreten sind, würden sie in der Jerusalemer Knesseth wohl noch am leichtesten aussitzen. Gilt die Party-Metropole am Mittelmeer doch seit jeher als „Bubble“. Eine Blase, die nichts mit dem Rest des Landes zu tun hat.

Schwieriger wird es, seitdem sich immer mehr religiöse Jüdinnen und Juden den Protesten angeschlossen haben. Viele haben die aktuelle Regierung gewählt. Dass sie sich nun aus Sorge um die Demokratie von Netanjahu abwenden, dürfte ihn schmerzen. Eine Demütigung ist, dass ausgerechnet er und seine Frau Sarah, die Washington-Reisen doch besonders lieben, seit seiner Wiederwahl im November noch nicht ins Weiße Haus zu Israels wichtigsten Verbündeten eingeladen worden sind. US-Präsident Biden hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er – anders als sein Vorgänger Trump –, Netanjahus Regierungsstil nicht schätzt. Biden sprach sogar von der „extremistischsten Regierung“, die er je gesehen habe. Statt Netanjahu hat Biden diese Woche Israels Staatspräsident Isaac Herzog im Oval Office empfangen. Herzog mahnt seit Monaten, Israel stehe „am Rande eines gesellschaftlichen und verfassungsrechtlichen Zusammenbruchs“.

Verteidigungsfähigkeit bedroht

Mit Abstand am härtesten trifft Netanjahu aber die Drohung der Reservisten. Mehr als 4000 haben angekündigt, entweder sofort oder nach der Verabschiedung des umstrittenen Gesetzes nicht mehr einzurücken. Unter ihnen viele Reservisten der Luftwaffe, von Sondereinheiten des Militärgeheimdienstes, Mitglieder verschiedener Cyberkrieg-Einheiten sowie des Inlandsgeheimdienstes „Shin Bet“. Sollten sie ihre Drohung wahrmachen, wäre Israel nicht mehr verteidigungsfähig.

Da die Hisbollah an der Nordgrenze gerade wieder zündelt – einige ihrer Kämpfer haben die Grenze zu Israel überschritten – könnte dies für Netanjahu ein Grund sein, die umstrittene Justizreform bis nach der Sommerpause zu verschieben. Mit dem Hinweis, vorrangig sei nun die existenzielle Sicherheit des Landes. Seine Koalitionspartner werden aber ordentlich Druck machen, das Vorhaben bis Ende Juli durchzuziehen. Wie auch immer diese Runde im Machtpoker ausgeht. Der Kulturkampf um die künftige Ausrichtung von Eretz Israel hat erst begonnen. Aber solange all die EU-Reisepässe nur zum Reisen und nicht zum Auswandern benutzt werden, überwiegt bei der Mehrheit offenbar noch, getreu der israelischen Nationalhymne: Ha Tikva, die Hoffnung.

Die Autorin war sechs Jahre Korrespondentin in Israel und ist nun Redaktionsleiterin Ausland beim Bayerischen Rundfunk.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung