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KANADAS „Sommersoldaten“

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Unsere Rotröcke von Fort Henry sind sicherlich nicht so bekannt, wie die ,Mounties’ oder die britischen Garderegimenter“, meint Mr. Ronald L. Way. Offiziell führt er den Titel eines „Director of Historie Sites“; im Rahmen der „Ontario — St. Lawrence Development Commission“, eine Körperschaft, die etwa einem Mittelding zwischen einem Denkmalamt und einer Fremdenverkehrsinstitution entspricht. In ihrer heutigen Gestalt ist die alte britische Festung Fort Henry am Nordufer des Ontario-Sees eigentlich Mr. Ways Schöpfung, ebenso die militärische Besatzung, die „Fort Henry Guand“, von den Touristen aus den USA begeistert photographiert, wenn sie auf dem Paradeplatz aufmarschiert, der von Arkaden und Plattformen umgeben ist, auf denen blaugrau gestrichene großkaliberige Geschütze aus dem 19. Jahrhundert ihre Mündungen nach außen richten.

„Die Zeiten ändern sich eben.“ Der Kustos dieses eigenartigen militärhistorischen Denkmals dreht lächelnd sein Whiskyglas. Wir sitzen ln der Offiziersmesse des Forts, die einen Begriff alter englischer und kanadischer Wohnkultur gibt. An den Wänden Bilder: Königin Viktoria, der Prinzgemahl Albert. Über dem aus Ziegeln gefügten traditionellen Kamin ein Porträt des Generals Wolfe, der 1759 während des entscheidenden Kampfes mit den Franzosen in der Schlacht von Quebec fiel. An beherrschender Stelle der „Coat of Arms“, das königliche Wappen, gehalten von Löwe und Einhorn, das auch unverändert auf dem Fallgatter des Haupttores prangt — obwohl Kanada mittlerweile eine neue eigene Flagge einführte. „Ja, die Zeiten ändern sich. Allsommerlich erleben wir hier wahre Invasionen von amerikanischen Besuchern. Dabei hatte Fort Henry ursprünglich gerade die Bestimmung, unseren südlichen Nachbarn daran zu hindern, auf kanadischen Boden einzudringen.“

Während des britisch-amerikanischen Krieges von 1812 bis 1814 errichteten die durch die Ereignisse mißtrauisch gewordenen Engländer zum Schutz des strategisch wichtigen Punktes Kingston zunächst behelfsmäßige Fortifikationen. „In einer Wildnis von Baumstrünken, umgestürzten Stämmen und urtümlicher Felslandschaft, verseucht durch Moskitos, Mücken und andere Plagen“, wie es ein britischer Offizier beschrieb. Der spätere Ausbau schuf dann eine typische Festungsanlage des 19. Jahrhunderts, für Infanterie und Artillerie. Bis 1870 waren britische Truppen in Fort Henry stationiert, dann bis 1890 kanadische Regimenter. Das Schicksal wollte es, daß das Fort eine Friedensgarnison blieb. Die Feinde, die es 1914 bis

1918 und 1939 bis 1945 betraten, kamen waffenlos und trugen ein großes „PW“ auf ihre Uniformen gemalt, es waren deutsche Gefangene.

Zwischen den Kriegen allerdings schien es, als sollte Fort Henry, mittlerweile ein leerstehendes Objekt, dem langsamen Verfall preis- gegeben werden. Ronald Way selbst veigr es, der 1936 die Restaurierung und, wo ‘erforderlich, den originalgetreuen Nachbau der Festung an-

regte. Einen Teil des Mauerwerks trug man Stein für Stein ab und errichtete es neu. Zwei Jahre später wurde Fort Henry offiziell eröffnet, nach den Worten des damaligen Premierministers „zur Belehrung und Freude des kanadischen Volkes und seiner ausländischen Freunde — als historisches Museum, in dem für immer die Erinnerung an die Vergangenheit unseres Landes wachgehalten werden soll“.

Die Kasematten, die einst 350 Mann beherbergten, dienen nun als Räume für die Waffensammlung und lokalgeschichtliche Exponate der Provinz Ontario. Ein eigenes Marinemuseum ist den Erinnerungen an die Gefechte auf dem Ontariosee gewidmet, wo sich britische und amerikanische Segler 1812 bis 1814 Schlachten lieferten. Viele der Objekte stammen von gesunkenen Schiffen.

Sinngemäße lebendige Ergänzung von Bauwerk und Musealgut aber ist die „Fort Henry Guard“, die im Sommer in der Festung auf Posten zieht. Sie besteht aus einer Infanteriekompanie von etwa 40 Mann Stärke und einer Batterie Feldartillerie. Die Offiziere und Unteroffiziere stellt die Kanadische Armee, doch die Mannschaft wird aus Studenten kanadischer Universitäten formiert, die während der Ferien den roten Rock anziehen und zwei oder drei Monate viktorianisches Soldatenleben demonstrieren, mit allem, was d’azugehört: Weckruf, Exerzieren, Wachdienst, Defilieren und Retraite.

Viktorianisch, denn die Fort Henry Guard ist nach dem Stand der britischen Infanterie beziehungsweise Artillerie von 1867 — dem Jahr, da Kanada den Status eines Dominions erhielt — uniformiert, ausgerüstet und bewaffnet. Nur die Buchstaben „FHG“ im Tschakoemblem, auf den Achselklappen und den geprägten Knöpfen sind Abweichungen von der Norm, wie sie in den für diese „Sommersoldaten“ gültigen alten vergilbten Vorschriften festgelegt sind.

Stilgerecht auch die Mannschaftsunterkünfte: Unverputzte Gewölbe mit alten Eisenöfen und Sturmlaternen an den weißgekalkten Wänden. Auf den zusammengeklappten Pritschen die gerollten Decken, darüber an Haken Uniform und weißes Riemenzeug. Auf den Borden die hohen Tschakos, im Ständer griffbereit aufgereiht die Vorderladergewehre mit langen Stichbajonetten, tadellos gepflegt, versteht sich. „Die Fort Henry Guard ist natürlich keine militärische Truppe im eigentlichen

Sinn, sondern wurde aufgestellt, um den Besuchern — seit 1938 immerhin einige hunderttausend Personen — den richtigen Eindruck von der Atmosphäre zu vermitteln“, betont Mr. Way. „Das Ganze ist gewissermaßen ein Experiment in geschichtlichem Anschauungsunterricht — ein gelungenes Experiment.“

Immerhin wurden die scharlachroten Studenten schon des öfteren für würdig befunden, als offizielle Ehrenkompanie zu fungieren, so etwa bei der Eröffnung des kanadischen Parlaments, beim Besuch von Königin Elisabeth und des Herzogs von Edinburgh im Juni 1959 oder während der Weltausstellung in Montreal. Die Elite der amerikanischen Streitkräfte, das US Marine Corps, lud vor einigen Jahren kameradschaftlich zu einer Feier in Arlington im Staat Virginia ein, wo die riesige Bronzegruppe des Ehrenmales der „Ledemacken“ steht. Erinnerung an diese Begegnung der nunmehr unverbrüchlich friedlichen Nachbarn ist eine amerikanische Trommel. „Bisher haben die US Marines nur drei ausländischen Formationen solche Trommeln verliehen.“

Zweimal, 1956 und 1963, nahm die Fort Henry Guard am Großen Zapfenstreich der Britischen Armee in London teil, in voller Stärke, samt Tambours und Hornisten, die Fahnengruppe mit den beiden Fahnen, der „Queen’s Colour“ und der „Regimental Colour“ vor der Einteilung. Dazu bärtige Pioniere mit weißen Lederschürzen und geschulterten Beilen und last not least, nach britischer Militärtradition das Maskottchen, in diesem Fall ein schneeweißer Ziegenbock namens „David“. Wie auf Kommando kniete sich der Gehörnte sofort auf die Vorderbeine, sobald die Hymne „God Save the Queen“ erklang.

„Eine Fremdenverkehrsattraktion, gewiß“, erklärt Mr. Way mit einem Blick über das von einigen Straßen durchzogene Flachland, das sich nördlich der Festung zwischen dem Rideau-Kanal und dem St. Lawrence-Strom breitet. „Aber die wahre Bedeutung dieses Forts liegt darin, daß wir hier, wie schon erwähnt, kanadische Geschichte praktisch zeigen können. Wenn es möglich ist, die Vorstellung von einem historischen Ereignis mit dem Ort zu verbinden, an dem es vor sich ging, dann wirken die topographischen Gegebenheiten und erhaltenen Einzelheiten suggestiv im Sinn einer Realität. Es ist noch besser, wenn sich der Besucher in der authentischen oder originalgetreu nach gestalteten Umgebung einer anderen Epoche findet, sobald er die Zugbrücke einer alten Festung überquert hat. In jedem verständigen Menschen kann durch die unmittelbare Anschauung das Bewußtsein für die Vergangenheit geweckt oder aktiviert werden. Und so besteht der wahre Wert und die Rechtfertigung unserer Bemühungen darin, daß wir den vielen Tausenden, die zu uns kommen, jenen Sinn für historische Werte vermitteln, der sich eben nicht in der wissenschaftlichen nüchternen Registrierung von Fakten erschöpft, sondern auch die Empfindung jedes einzelnen direkt ansprechen soll.“

Andere Länder,’’ andere Sitten, dachte ich unwillkürlich. Aus Erfahrung weiß ich als Europäer, daß es bei uns Gegenden gibt, wo man in einem solchen Fall das historische Bauwerk bestenfalls als pseudohistorisches Nobelrestaurant einrichten oder „Castle Parties“ für Playboys darin abhalten würde.

Ich schwieg. Zwei Artilleristen der Fort Henry Guard gingen vorbei, in knappen dunkelblauen Uniform- spenzern, die charakteristische viktorianische steife Feldmütze, die „Pillenschachtel“, vorschriftsmäßig etwas schräg aufgesetzt. Eine amerikanische Familie bat die beiden, einen Moment stehenzubleiben. Sie taten es, taten es gern, nahmen stramme Haltung an. Ein wunderschönes Motiv! Daddy hißte die Kamera ans Auge, ließ den Verschluß klicken. Wieder ein Farbdia mehr für „reminiszente“ Abende in Chikago oder Pittsburgh! Der Paradeplatz lag im vollen Licht des spätsommerlichen Mittags. Kinder hatten sich um den Posten bei der Hauptwache geschart, musterten ihn eingehend. Bald würde der junge Mann wieder aus dem 19. Jahrhundert in die Gegenwart umsteigen und weiterstudieren: Medizin vielleicht, Soziologie oder Maschinenbau. Sein scharlachroter Waffenrock hob sich als leuchtender Farbfleck von den weißgrauen Steinquadern der Mauern ab.

Aus dem Englischen übersetzt von Günther Martin.

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