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Karolingische Wandmalereien

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In der Kirche des Benediktinerinnenklosters St. Johann im einsamen Münstertal in der Schweiz, das sich jenseits des Ofenpasses gegen das obere Etschtal hin öffnet, wurden vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert von Josef Zemp und Robert Durer oberhalb der 1492 eingebauten gotischen Gewölbe bedeutende Reste karolingischer Wandmalerei entdeckt, Szenen aus der Geschichte von David und Absalon sowie eine Himmelfahrt Christi nach dem sogenannten syrischen Schema. Die Fresken erregten internationales Aufsehen (vor allem nachdem die meisten dieser Fragmente 1910 nach Zürich ins Schweizerische Landesmuseum überführt worden waren), da man aus karolingischer Zeit fast gar keine Wandmalereien besaß.

In den letzten Jahren wurde an den Wänden der Kirche und in ihren drei Chorapsiden die schon früher vermutete Fortsetzung der von den beiden Forschern 1906/10 publizierten Fragmente freigelegt, ein riesiger Zyklus, der im europäischen Denkmälerbestand nicht seinesgleichen hat. An den Längswänden des Schiffes, wo die Bilder der Nordwand zum größten Teil erhalten sind, ist das Leben Jesu in ursprünglich 62 Bildern erzählt, von der Verkündigung an Maria bis zu Christus in der Vorhölle und dem Engel am Grabe; den Abschluß macht das schon seit 1896 bekannte Himmelfahrtsbild an der Chorwand. In den drei Chorapsiden sind die Viten ihrer Altarpatrone erzählt, Johannes des Täufers, der Apostelfürsten und des Pröto-märtyrers Stephanus. Die ganze Westwand wird von einem mächtigen Jüngsten Gericht eingenommen, der ältesten Darstellung dieser Art auf der Welt, fast drei Jahrhunderte früher als die entsprechenden Darstellungen in Sant' Angelo in Fortiiis und Torcello.

Ein bedeutender unbekannter Künstler hat mit Gehilfen in der Zeit um 800 den mächtigen Zyklus von Müstair (romanischer Name für Münster) geschaffen. Viele Bildelemente stammen rein aus der Kunst der Ostkirchen. So sehen wir etwa bei der Bußpredigt des Täufers die „Axt, die an die Wurzel des Baumes gelegt ist“, die wir seit dem

5. Jahrhundert (Elfenbeinkästchen im South Kensington Museum) bis in späte griechische Miniaturen hinein verfolgen können. Bei der Taufe Christi finden wir die sogenannte Täufersäule, die ebenfalls nur in der östlichen Kirche zu finden ist, von der Erztüre des Domes von Susdalj bis zu griechischen Miniaturen des 10. Jahrhunderts. Bei der Darstellung des Jüngsten Gerichtes rollen vier Engel den Sternenhimmel ein, wie wir das viel später in Torcello und Sant' Angelo in Formis finden. Trotz diesen und anderen Motiven handelt es sich voraussichtlich aber um abendländische Künstler. Die Ornamentik ist zum Teil durchaus spätantik. Die Künstler dürften aus Oberitalien gekommen sein, aus den Kreisen Aquileja-Ravenna-Mailand. Vor allem die Darstellung von Waffen ist typisch langobardisch-fränkisch.

Was wir sonst an Wandmalereien des Frühmittelalters besitzen, ist wenig: Das Apsisfresko von Castelsepio bei Varese, die Wandbilder in Reichenau-Oberzell und in Goldbach, die Fragmente in der Krypta von Auxerre, die vielfältigen, aber nicht zusammenhangenden Wandmalereien in S. M. Antiqua auf dem Forum Romanum.

Die Fresken in Münster-Müstair geben einen eisten und geradezu überwältigenden Eindruck eines karolingischen Gesamtkunstwerkes, obwohl nicht viel mehr als die Hälfte davon erhalten ist.

1951 hielt die Fünfländer-Vereinigung für Frühmittelalterforschung in der Schweiz ihre 3. Studientagung in der Form eines Wanderkongresses ab. Ueber hundert Forscher aus ganz Europa erkannten damals in der Architektur und in den Malereien von Münster-Müstair eine eigenartige Offenbarung der karolingischen Renaissance. Eine erste methodische Untersuchung der neuentdeckten Wandbilder wird im Frühjahr 1953 in den Akten des obengenannten Kongresses erscheinen, verfaßt vom Verfasser dieser Zeilen, der als Präsident der Eidgenössischen Kommission für historische Kunstdenkmäler die Oberaufsicht über die Arbeit innehat.

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