6760696-1968_14_15.jpg
Digital In Arbeit

Neue und neueste Musik

Werbung
Werbung
Werbung

„Ich habe mich ja wirklich bemüht, mein Bestes zu geben, allen Ihren Anregungen und Rathschlägen Folge zu leisten.“ Mit diesen Worten sandte Alban Berg am 8. September 1914 zwei seiner „Drei Orchesterstücke“ op. 6 an seinen Lehrer Arnold Schönberg, dem sie zum 40. Geburtstag gewidmet waren. Vor allem im letzten der drei Stücke, dem ausgedehnten „Marsch“, der länger dauert als die vorausgehenden „Präludium“ und „Reigen“ zusammen, versucht Berg zum ersten- und letztenmal die „große Form“ zu erfüllen, und zwar als Synthese von Mahlers symphonischem Stil und der neuen, ihm durch Schönberg bekanntgewordenen

Sprache. Das Werk — mit seinen fast unerträglichen Binnenspannungen, seiner ekstatischen Gebärde und der unüberhörbaren Katastrophenstimmung (die auch zeitbedingt war) — erweist zwar die Unmöglichkeit des Unterfangens, ist aber als Dokument von ähnlicher Bedeutung, wie Zadkines bekannte Plastik für das zerstörte Rotterdam. — Claudio Abbado hatte das in jeder Hinsicht schwierige Werk auf das Programm des von ihm dirigierten 8. Philharmonischen Abonnementkonzerts gesetzt. Die Intensität und klangliche Differenziertheit der Wiedęrgabe mag als Kompensation für die späte Würdigung in diesem Rahmen gel- . ten. Davon war auch das philharmonische Publikum so stark beeindruckt, daß es dieses neue, immer noch revolutionär und schockierend klingende Werk mit fast ebenso lebhaftem Beifall bedachte, wie die vorausgegangene 8. Symphonie von Dvorak und die das Konzert brillant beschließende 2. Suite aus dem Ballett JZaphhis und Chloe“ von Ravel. In dereh erstem Teil, einem der zauberhaftesten Naturbilder, die der Impressionismus hervorgebracht hat,

dem Sonnenaufgang über arkadischer Landschaft, ließ es der junge italienische Dirigent ein wenig an jener Ruhe fehlen, die dem zart-schwärmerischen Hauptthema angemessen wäre. Alles übrige gelang Abbado gut und in höchstem Maß effektvoll.

Im Mozart-Saal gab es vergangene Woche ein ungewöhnliches Konzert des Ensembles „Die Reihe“ mit zwei abendfüllenden Werken der aller- neuesten Richtung, deren Produkte sich ja gemeinhin durch aphoristische Kürze auszeichnen. Zunächst „Echot für vier Solisten“ (Klarinette, Violoncello, Schlagzeug und Klavier) von Lukas Foss, Jahrgang 1922.’ Im 4. und letzten Satz erklingen durch Lautsprecher noch zwei vorbespielte Tonbänder. Zwar sind die einzelnen Stimmen „normal“ notiert, doch werden die Spieler durch heftige Schläge auf einen Amboß veranlaßt, jeweils mit ihren „Leitmotiven“ einzusetzen beziehungsweise nach rückwärts zu springen, wodurch stellenweise der Eindruck eines musikalischen Happenings entsteht. Im ganzen ist das in den Jahren 1960 bis 1963 geschriebene halbstündige Werk nicht ohne klanglichen und poetischen Reiz.

Das gilt auch von Friedrich Cerhas „Exercises“ für ein größeres Kammerensemble: 15 Instrumentalisten, einen Sänger und einen Sprecher, dessen Klangfarbe durch tiefe Bläser (Baßklarinette, Wagnertuba, Baßposaune) bestimmt ist. Was hier musikalisch, programmatisch und ideologisch geschieht, ist schwer zu beschreiben. Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt Auszüge aus dem Tagebuch veröffentlichen, das der Komponist während der Arbeit an diesem typischen „work in progress"

während der Jahre 1962 bis 1965 geführt hat. Über die Form des 25tei- ligen, 45 Minuten dauernden Werkes kann man sich nach einmaligem Hören kaum ein Urteil bilden. Originalität kann ihm auf jeden Fall bescheinigt werden, auch Klangphantasie und, Stellenweise, die Fähigkeit, für sehr extreme Emotionen einen entsprechenden Ausdruck gefunden zu haben. Im Gedächtnis bleiben vor allem die gleich zu Beginn und kurz vor dem Ende erklingenden langen Ketten hervorragend gut gesetzter Bläserakkorde. Die Teile X und XI nennt Cerha „Versuch eines Requiems I und II“ — wie Max Frisch sein zur gleichen Zeit im Volkstheater laufendes Stück. Der Gesamttitel „Exercises 1962 bis 1967“ ist ehrlich. Ob die gegenwärtige Form des Werkes die letztgültige ist, darüber könnte man mit dem Autor in frühestens fünf Jahren sprechen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung