Als plötzlich niemand starb

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José Saramago schrieb einen zeitgenössischen Totentanz.

Furche-Leserinnen und-Leser werden sich vielleicht daran erinnern: José Saramagos Roman "Die Stadt der Sehenden", auf Deutsch 2006 erschienen, begann mit dieser Szene: Wahlhelfer sitzen im Wahllokal - und warten. Der Himmel hat seine Schleusen geöffnet und Regen und Wahlbeteiligung verhalten sich verkehrt proportional: die Wähler der Hauptstadt bleiben aus.

In seinem neuen soeben auf Deutsch erschienenen Roman "Eine Zeit ohne Tod" bleibt auch etwas aus, schon auf der ersten Seite, ja im ersten Satz: "Am darauffolgenden Tag starb niemand." Dieses Mal sind es nicht die Wähler - es ist der Tod. "Diese allen Lebensregeln zuwiderlaufende Tatsache löste bei den Menschen ungeheure Verwirrung aus, und die war in jeder Hinsicht gerechtfertigt, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass in den vierzig Bänden der Universellen Weltgeschichte kein einziges derartiges Phänomen belegt ist, dass nämlich ein kompletter Tag mit vollen vierundzwanzig Stunden, aufgeteilt in Tag-, Nacht-, Morgen- und Abendstunden, vergangen wäre, ohne dass sich ein krankheitsbedingter Todesfall, ein tödlicher Sturz oder ein erfolgreicher Selbstmord ereignet hätte, nichts, absolut gar nichts."

Erst Freude, dann Qual

Dieser Zustand löst zunächst Verwirrung aus, dann große Freude, die sich schließlich zur Qual auswächst. Denn die Zahl der Sterbenden, die nicht sterben, nimmt ständig zu und Krankenhäuser und Altenheime platzen aus allen Nähten, zumindest bis ein findiger Geist bemerkt, dass in den Nachbarländern weiterhin gestorben wird. Man braucht also nur ein bisschen nachhelfen und die Sterbenden über die Grenze und so in den Tod führen …

Was in einem Fall sehr human scheint, wird im anderen Fall ethisch problematisch. Die Geschäfte mit der Überführung in den Tod bleiben nicht aus, die Mafia weiß die Gunst der Stunde zu nützen. Die Bestattungsunternehmen definieren "das traditionelle Know-how von Grund auf neu" und öffnen die Friedhöfe für Tiere, denn Tiere sterben weiterhin, was unter anderem die Frage aufkommen lässt, ob vielleicht jeder seinen eigenen Tod hat. Die ratlose Regierung lädt Philosophen zum Krisengespräch, und der Kardinal äußert im Telefongespräch sein Entsetzen: "Ohne den Tod, und nun hören Sie mir gut zu, Herr Premierminister, ohne den Tod gibt es keine Auferstehung, und ohne Auferstehung gibt es keine Kirche, Teufel nochmal."

Der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago erzählt, wie man es von seinen zahlreichen anderen Romanen kennt: mit viel Augenzwinkern, politischem Engagement und auffälliger Liebe zu Mensch und Hund. Der Hund ist auch in früheren Romanen ein stets verständiger Freund und Begleiter des Menschen.

Liebenswürdige Bosheit

Den ersten Teil des Romans prägt der für den Autor so typische spöttische Ton. Die Dialoge sind messerscharf klug und herzerfrischend komisch, der Erzähler kommentiert ironisch das Sprechen und Handeln seiner Figuren. Mit liebenswürdiger Bosheit schaut Saramago Politikern und Kirchenvertretern aufs Maul, pointiert wirtschaftliche Vorgänge und entlarvt in einer bewundernswerten Scharfsicht Sprache und Denken seiner Zeit. "Hoffentlich kommen wir noch rechtzeitig, um die Großväter zu retten."

Sobald sich tod - ja, tod, klein geschrieben und weiblich - per Brief ins Spiel bringt, ändert sich der Fokus. Ab nun wird wieder gestorben, aber mit postalischer Vorwarnung, damit der Betroffene eine Woche Zeit hat, sich darauf vorzubereiten. Nun wird das Auge nicht mehr auf gesellschaftliche Vorgänge geworfen, sondern auf einzelne: auf tod und auf jenen Cellisten, der längst hätte sterben sollen, dessen violetter Brief aber immer wieder zu tod zurückkehrt. Um diesen Cellisten muss tod sich nun höchstpersönlich kümmern.

"Eine Zeit ohne Tod": eine ironische Parabel, ein wundersames Märchen, ein zeitgenössischer Totentanz des 85-jährigen Schriftstellers, der schreibt und schreibt und schreibt …

Eine Zeit ohne Tod

Roman von José Saramago

Deutsch von Marianne Gareis

Rowohlt Verlag, Reinbek 2007

252 Seiten, geb., € 20,50

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