6600950-1953_38_07.jpg
Digital In Arbeit

Blicke in die Zeit

Werbung
Werbung
Werbung

Der Sternengucker

Er ist kein Astronom. Doch er beäugt den Sternenhimmel nicht weniger gründlich als die Fachleute. Warum er immer nach den Sternen starrt, läßt sich nur vermuten.

Vielleicht, weil er einmal gelesen hat, daß jedes Menschen Schicksal in den Sternen geschrieben steht? Vielleicht, weil er den himmlischen Glanz dem Grau alles Irdischen vorzieht? Vielleicht auch nur, um eine Sternschnuppe zu entdecken?

Des Sternehguckers Unglück war, daß er dem festen Boden unter seinen Füßen zu wenig Bedeutung zollte. Denn während er in die Sterne schaute, zogen ihm andere die Schuhe aus.

Der Sternengucker bekam erfrorene Füße. Doch er ließ sich nicht stören. Und als man ihm zuletzt auch das Hemd auszog und er völlig entblößt von aller Habe dem Schrecken des Nichts gegenüberstand, runzelte er nur verwundert die Augenbrauen: „Diese Menschen sind doch Bestien! Ihre Erde eine Hölle!... Wie wohlgesinnt sind mir dagegen die — Sterne!“

LJnd starrte wieder empor — der Sternengucker.

Der Kinogener

Er studiert jeden Tag die Kinoprogramme. Und geht jeden Tag ins Kino. Hat das eine geschlossen, läuft er zum nächsten. Ob Regierungen stürzen, Bomben explodieren, die Welt untergeht — es kümmert ihn nicht. Er geht ins Kino.

pr kennt sämtliche Filmstars, weiblich und männlich. Er besitzt eine Autogrammsammlung, die sehenswert ist. Sein größter Ehrgeiz ist, keinen Film, der jemals gedreht wurde, versäumt zu haben. Und weil täglich irgendwo ein Film gedreht wird, muß er täglich ins Kino gehen.

Wenn er nach der Vorstellung auf die Straße tritt, fühlt er sich mit dem Haupt-

darsteller noch identisch. Einmal als „Robin Hood“, das nächste Mal als „Jack, der Auf-schlitzer“; dann wieder als „Der Gehetzte“ oder als „Der dritte Mann“. Er verehrt mit glühender Leidenschaft die schönsten Filmstars der Welt, wenn auch nur die kurze Zeit bis zum nächsten Film. Seine Seele gleicht ungefähr der Komposition eines Bildes der letzten modernen Kunst.

Da der Kinogeher in der Regel noch jung an Jahren ist, so machen sich seine Eltern um ihn die größten Sorgen. Was soll einmal aus dem Burschen werden, fragen sie. sich. Sie fühlen sich seiner Leidenschaft gegenüber machtlos. Er selber zuckt die Achsel und blickt gleichmütig in die Wolken.

Und geht ins Kino.

Das Genie

Es stößt jeden vor dem Kopf. Und schafft sich überall Feinde. Erst nach seinem Tode dämmert es seinen Zeitgenossen, daß es unsterblich ist.

Es labt Millionen und Milliarden werden mit seinem Namen verdient. Es wird zur nie versiegenden Melkkuh von Dilettanten und Geschäftemachern. Wenn alle Welt von dem Genie überzeugt ist, läßt sich auch der Spießer herbei, es dem Regal der bürgerlichen Bildung einzuverleiben, wo es von Kindern und Kindeskindern ehrfurchtsvoll bestaunt wird.

Einmal reiste ein glühender Verehrer Tausende von Meilen weit, um des Genies Grab zu sehen. Ein städtischer Beamter führte den Besucher vor ein gewaltiges Monument. „Ich sehe“, nickte der Ausländer ergriffen, „die Heimat hat das Genie verstanden und ihm ein würdiges Grab erbaut“. „Grab?“, schüttelte der Beamte verwundert den Köpf. „Sie sehen hier sein Ehrendenkmal! — Wo das Genie begraben wurde — weiß kein Mensch. Vermutlich in einem Massengrab. Denn — Sie werden verstehen — als es noch auf Erden wandelte, wer konnte da feststellen — daß es ein Genie ist? ...“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung